Da gewöhnze dich dran
Gelsenkirchen-Süd, Bochum-Wattenscheid, Hamme, Werne, Lütgendortmund.
«Du willst mich also erst mal nicht sehen», sage ich. Es ist keine Frage.
«Vielleicht später wieder.»
«Später?»
«Ja, später.»
«Vielleicht.»
«Ja, vielleicht.»
«Warum dann der heutige Tag? So romantisch an der Zeche im Schnee.»
«Ich wollte herausfinden, was ich noch für dich empfinde.»
«Und? Was empfindest du?»
«Habe ich doch gesagt: Ich mag dich.»
Wir fahren über die Schnettkerbrücke, die immer noch eine Baustelle ist, nach Dortmund hinein, unter Bäumen hindurch an der Westfalenhalle vorbei, auf die B 54 nach Süden. Björn schaut stur nach vorne. Er hat alles gesagt, was er zu sagen hat. Ich habe noch so viele Fragen – warum, warum jetzt, liegt es an mir, was habe ich falsch gemacht? Fragen, auf die Björn mir keine Antwort geben wird.
Vor der Haustür gibt Björn mir einen scheuen Kuss, so wie man als Kind die Tante küssen musste, die man nicht küssen möchte.
«Tschüs», sage ich.
«Mach’s gut», sagt Björn.
Ich schlage die Autotür zu, und er fährt davon. Ich schaue ihm nach, bis er um die Ecke biegt und fort ist.
Als ich die Treppe zu meiner Wohnung hinaufgehe, lugt Schmidtchens Kopf aus der Wohnung. Mit krummem Zeigefinger winkt er mich zu sich.
«Is dat dein Lawwa?»
Ich nicke.
«Dat Christkind war abba ’ne bessere Partie.»
«Herr Schmidtchen, das Christkind war nur ein Kollege. Außerdem …»
«Ich weiß doch, Etteken. Den Füller nich in Firmentinte tauchen. Watt ich eigentlich sagen wollt: Frohe Weihnachten.» Er zieht ein kleines, in zerknittertem Papier eingewickeltes Päckchen hinter seinem Rücken hervor.
«Wer ist das, Rudi?», ruft es aus den Tiefen der Wohnung.
«Dat Etteken is grad nach Hause gekommen!», ruft Schmidtchen zurück.
Lisbeth kommt von hinten angeschlufft. Sie trägt einen lila Hausanzug aus Nicki.
«Ist der neu?», frage ich. «Sieht gemütlich aus.»
«Hat mir mein Rudolf zu Weihnachten geschenkt. Weil ich doch bald ins Krankenhaus muss.»
«Oh, das tut mir leid», sage ich. «Was Schlimmes?»
«Nur watt abklären. Weil ich in letzter Zeit immer so müde bin.»
«Schilddrüse?»
«Wissen se nich. Müssen se gucken. Abba keine Sorge: Unkraut vergeht nich.»
Schmidtchen hält mir erneut das Päckchen hin. «Hier. Nimm.»
«Danke schön», sage ich. «Das ist … also, ich habe jetzt aber nichts für Sie.» Es ist mir unangenehm.
«Is nur ’ne Kleinigkeit. Von wegen gute Nachbarschaft.»
Ich löse das Geschenkpapier und entpacke eine Schachtel Pralinen. «Vielen Dank», sage ich noch mal. Ich stehe ein bisschen unschlüssig da, dann umarme ich erst Schmidtchen, dann Lisbeth.
«Und getz mach, datt du ins Bett kommst. Siehst schon ganz käsich aus.»
Ich winke noch einmal und verschwinde die Stufen hinauf. Meine Beine sind schwer, ich spüre noch Björns Lippen auf meinen, eine gefühllose Berührung, ein hastig dahingehauchtes Bussi, das kaum ein Kuss zu nennen ist. Ich denke an Thorsten, an das Eichhörnchen, an unseren Kletterabend, an seine Arme um meine Schultern, an seinen Kuss am Ende des Tages. Er hat sich seither nicht bei mir gemeldet, wahrscheinlich wartet er, dass ich ihn anrufe, ihm maile, eine SMS sende, ihm ein Signal gebe, dass es Absicht war, was zwischen uns geschehen ist, dass es mir gefallen hat, dass ich ihn gerne habe. Aber ich weiß nicht, was ich ihm schreiben soll, ich weiß ja nicht einmal, was ich für ihn empfinde, ob ich mehr von ihm will, ob ich ihn nur geküsst habe, weil mir Björn fehlt, ob es überhaupt Sinn macht, etwas mit ihm anzufangen, mit einem Arbeitskollegen. Wenn ich an ihn denke, fühle ich Wärme – und ich fühle Scham. Ich schäme mich für unsere Küsse, ich fürchte mich vor dem Moment, in dem ich ihm wieder begegne, im Büro. Wie wird es sein, wird er mich in den Arm nehmen? Wie unangenehm ist es mir vor Melanie – oder wenn Kaminski es bemerkt?
Oder wird er mich ignorieren? Vielleicht wartet er gar nicht auf meinen Anruf, vielleicht ist ihm peinlich, was passiert ist, vielleicht hat er nur Sorge, dass ich zudringlich werde, dass ich Ansprüche an ihn stelle so wie an Björn. Vielleicht sehen wir uns nach Neujahr wieder, und er sagt: «Lass es uns vergessen, okay?»
Ich werde antworten: «Okay», und wir werden so tun, als sei nichts gewesen.
An Gabis Tür hängt seit Heiligabend ein Türkranz mit Nikoläusen. Das «Gabi und Rainer»-Herz ist verschwunden. Ich bleibe kurz auf dem
Weitere Kostenlose Bücher