Da gewöhnze dich dran
stellen die Maschine morgen an. Wie war’s beim Training?»
«Ging so.» Mareike trottet mit ihrer Wäsche davon.
«Etwas einsilbig heute», sagt Thorsten.
«Vielleicht hat sie keinen Bock, ihrem Vater Rede und Antwort zu stehen», wende ich ein.
Es fühlt sich seltsam an, von Eichhörnchen als «Vater» zu sprechen.
«Sonst erzählt sie eigentlich immer was. Vielleicht liegt es daran, dass eine fremde Frau in ihrer Küche sitzt.»
Ich trinke meinen Wein aus und stehe auf. «Du hast recht. Wir müssen morgen arbeiten.»
«Ich bringe dich noch zur Bahn.»
Wir ziehen unsere Jacken über. Es hat zu regnen begonnen, doch das bemerken wir erst, als wir unten sind. Geduckt und schweigend, die Hände in den Taschen vergraben, Kapuzen über die Köpfe gezogen, marschieren wir strammen Schrittes zur Haltestelle. Der Regen schlägt uns ins Gesicht. Eine Tochter, ich kann es gar nicht fassen, er hat eine Tochter. Dreizehn! Wie alt ist Thorsten eigentlich? 33 – oder 35 ? Nicht einmal das weiß ich von ihm. Mein Gott. Ich habe den Vater einer dreizehnjährigen Tochter geküsst. Ich fühle mich wie 45 .
Am Bahnsteig streifen wir uns die Kapuzen von den Köpfen, schütteln uns wie zwei Hunde.
«Danke fürs Bringen», sage ich zu ihm.
«Ich bleibe noch, bis die Bahn kommt. Damit dich keiner blöd anmacht.»
Drei Minuten, sagt die Anzeige. Regen perlt von seinem Gesicht, bleibt in Bartstoppeln hängen. Seine Augen sind braun, komisch, habe ich noch nie gesehen bei Leuten mit roten Haaren.
«Wolltest du mich eben nicht küssen?», frage ich.
Er lächelt, nimmt meine Hände, zieht mich zu sich heran und küsst mich. Weich und fordernd, es fühlt sich vertraut an. Dann legt er seine Stirn an meine.
«Morgen im Büro», sagt er, «ist alles so wie immer, ja? Sonst werden wir Melanie nie wieder los.»
«Ich komme morgen ziemlich früh und hole das Auto. Dann fahre ich Melanie erst zum Orthopäden.»
«Ich kann dir mit Melanie morgen nicht helfen. Ich muss Mareike aus dem Bett prügeln.»
«Das geht schon. Und … danke. Es ist alles gut. Ich … was ich sagen will … ich mag dich.»
Die Bahn fährt ein. U 41 , Hörde. Mit einem Schmatzen öffnen sich die Türen. Warmer, feuchter Dunst, der Geruch von Schweiß, nassem Leder und Müdigkeit wabert unsichtbar aus dem Waggon. Es ist halb zehn, die Bahn ist gut gefüllt.
«Bis morgen», sage ich und gebe Thorsten einen Kuss.
«Bis morgen. Ich freue mich auf dich.»
Früh am Tag karre ich Melanie zum Orthopäden. In der Nacht habe ich kaum geschlafen, vor Aufregung, vor Glück, vor Überraschung. Und vor Verwirrung. Vor Desorientierung. Eichhörnchen, Vater. Wie surreal. Mareike: dreizehn. Unwirklich.
Im Wartezimmer frage ich Melanie: «Wusstest du, dass Thorsten eine Tochter hat?»
«Du etwa nich?»
«Nein.»
«Wie datt denn nich? Die ruft doch dauernd an.»
«Ich hab’s wirklich nicht mitgekriegt.»
Sie zuckt mit den Schultern. «Hat er dir gestern von ihr erzählt?»
«Ich habe sie … ja, hat er. Ich war ziemlich perplex.»
«Is immer für ’ne Überraschung gut, unser Eichhörnchen.»
Melanie wird aufgerufen. Ich bleibe im Wartezimmer und lese in der
Gala
. Nach zwanzig Minuten steht sie wieder vor mir, ohne Gips und erstaunlich unverletzt.
Ich sage: «Wunderheilung?»
«Is nur ’ne Prellung», sagt Melanie. «Hab ich doch gleich gesacht. Die Assistenzperle aus der Ambulanz hat sich vertan. War wohl ’n bissken übervorsichtig, so frisch von der Uni.»
«Dann kannst du dir ja jetzt wieder selbst die Haare waschen», sage ich, werfe die
Gala
in einen Korb und zeichne ein Quadrat vor meinen Körper. «Oder – was meinst du? Vielleicht war’s auch meine Pflege. Ich sehe das Schild schon vor mir: ‹Frau Nessy! Wunderheilungen und Gesundstreicheln! Keine Erotik, echte Wissenschaft! Eine Minute, ein Euro!›»
«Hähä», macht Melanie. «Komm, wir müssen zur Arbeit.»
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Mission Bradley
Kerstins Hochzeit findet im Ostwestfälischen statt. Wir reisen im Konvoi und okkupieren eine kleine Pension. Koffer auspacken, Kleider vorführen, Haare hochstecken.
Während die anderen sich noch gegenseitig einen Lidstrich ziehen, fahren Schnecke und ich vor, um die Kirche zu schmücken. Alina ist bereits dort, sie kommt aus der Gegend, kennt Kerstin sogar aus ihrer Handballzeit in der Jugend. Weil wir nicht wissen, wo genau die Kirche ist, rufen wir sie an.
Sie sagt nicht hallo, sie sagt nur: «Hier ist ein totes Pferd.»
Ich sage zu
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