Da hilft nur noch beten
DM. Brauchte ja sein Sohn vor der Zukunft keine Angst mehr zu haben.
Haftbefehl gegen Verdächtigen im Neuköllner Mordfall.
Eine 37jährige Frau war… Und wieder würde sich eine Mordkommission ans Werk machen, in der er fehlte.
Er warf die Zeitung in die Ecke und wandte sich dem dicken Wälzer zu, den Wuthenow geschrieben und vorhin mitgebracht hatte, mit einer Widmung auf der ersten Innenseite: Für Jessica mit nur drei Punkten… In denen aber steckt alles verborgen, was sich ein Mensch erträumen und erhoffen kann; und das ist in unserem Falle sehr, sehr viel. Wu.
Who is Wu? Mannhardt sah sich schon wieder als Opfer einer beginnenden Schizophrenie, verdammte seinen Zwang, alles mit allem in Beziehung zu setzen, hatte aber noch immer erhebliche Mühe zu begreifen, wieso Wuthenow… Ein Parteisoldat, eisern in der Disziplin, alles Lustbetonte abgetötet, nur der einen Sache verpflichtet… So hätte er doch sein müssen: märkisch-preußisch-DDR-lich karg, ein echter Dr. Triebverzicht. War er aber nicht: soff Champagner, nahm den Playboy mit nach Hause und kam regelmäßig zum Vögeln herüber. War er so? Oder war das alles ein genialer Zug, der DDR-Bevölkerung dermaleinst einen ganz modernen Häuptling zu bescheren? Wenn der ganze Erdball mal verwestlicht war.
Die neuen Theoriebedürfnisse der Monopolbourgeoisie. Von Prof. Dr. Friedrich-Wilhelm Wuthenow.
Friedrich-Wilhelm und dann Wuthenow, wie Schach von Wuthenow. Kein Wunder, daß alles so gekommen war.
«Hier geht es darum», so Wuthenow in seinem ersten Vorwort-Satz, «die herrschenden sozialwissenschaftlichen Theorien des bürgerlichen Lagers als das zu enthüllen, was sie wirklich sind: Machterhaltungstechniken der Monopolbourgeoisie…»
Weiter schaffte er’s nicht, denn in diesem Moment kam Corzelius wieder einmal von unten herauf, zum achten Male schon, hatte immer wieder nach der Post geguckt; diesmal den Briefträger abfangen können.
Jessica federte hoch, Mannhardt fuhr herum, Wuthenow drehte sich vom Fenster weg.
«Nichts!» Corzelius warf einen ganzen Packen von Briefumschlägen, Zeitungen, Postkarten, Werbesachen und dergleichen gegen das Poster, das Geronimo, den Apachen-Häuptling, zeigte, ließ alles auf den Boden rieseln, ehe er den anderen mitteilte, daß keine Mitteilung eines Kidnappers oder eine sonstwie wichtige Mitteilung dabei gewesen sei. «Scheiße, Mann!»
Jessica sprang nun auf, und im Gewirr der Synapsen, in den Schaltkreisen ihres Gehirns gab es insofern eine erhebliche Fehlschaltung, als sie sich im Proberaum der Schaubühne wähnte und die Hekabe aus Euripides’ Troerinnen zu spielen begann; dies mit gewaltigem Pathos.
«Auf, Unselige, heb vom Boden das Haupt, / Reiß den Nacken empor! Dies ist Troja nicht mehr. / Daß die Stunde sich wandelt’, erduld es, ertrag’s! / Laß dich treiben vom Strom, laß dem Schicksal den Weg, / Lenk nicht wider den Schwall; dem Wind, wie er weht, / Gib preis den Nachen des Lebens!»
Es war wie ein Anfall, die Suche nach Ekstase, die Betäubung brachte; Raserei, um aus sich selber zu fliehen.
«Was als Jammer ist mir, der Verwaisten, erlaubt, / Die ich Heimat und Kinder verlor und Gemahl? / O Glanz meiner Väter, so hell und so reich, / Nun versunken, wie wärest du flüchtig!»
Mannhardt hatte das Gefühl, sein Oberkörper würde hin und her pendeln wie ein aufgehängter Sandsack nach den Schwingern eines Schwergewichtlers; ihm wurde so schwindlig, daß er sich an der Tischkante festhalten mußte. Zu sehr erinnerte ihn Jessicas Ausflippen an die schlimmsten Fälle in Bad Brammermoor, in der Psychiatrie.
Er hatte Angst, er wollte fliehen, doch schon war Jessica auf ihn zugestürzt gekommen, hatte ihn gepackt, schrie ihm derart heftig ins Gesicht, daß ihm ihre Speicheltropfen wie Schrotkugeln vorkamen.
«Du hast mich angelogen, du Schwein! Meine Tochter ist längst tot!»
«Nein, bitte!» Mannhardt versuchte mit dem Stuhl nach hinten zu rutschen und wieder von ihr freizukommen, doch die schmalen Beine wollten nicht gleiten, hatten sich zu tief in den weichen Teppich gebohrt.
«Yemayá ist längst tot, ihr sagt es mir nur nicht! Ihr traut euch nicht! Sag mir die Wahrheit, bitte!» Sie beutelte ihn so sehr, daß seine helle Sommerjacke im Rücken hinten ratschte.
Mannhardt gelang es nun, mit den Füßen Halt zu finden und sich nach oben abzustoßen, stand nun und war anderthalb Köpfe größer als sie.
«Ich schwör dir, Jessica, es war ein Junge in der Tragetasche drin!
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