Da hilft nur noch beten
Küche Korken und Nadel und machte sich dann ans Werk, die Saugöffnung in der angegebenen Art und Weise kräftig zu erweitern.
«Ja, Katharina, du hast ja recht, daß du so schreist: Wie ist die Mami dumm! Der Papi, der ist Ingenieur, der hätt das alles gleich gemerkt…»
Die Herrichtung des Saugers glückte im zweiten Versuch, und da ihre Diagnose hundertprozentig gestimmt hatte, hielt sie knappe drei Minuten später ein Baby im Arm, das wieder eins war mit sich und der Welt.
Glücklich über dieses Ende ihres kleinen Dramas griff sie mit der freien Hand nach hinten und drückte den roten Einschaltknopf ihres Kofferradios nach unten. In einem der Morgenmagazine spielten sie den Tennessee-Waltz, eine ihrer Lieblingsmelodien, und ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie ganz plötzlich den Spruch vor Augen sah, der bei ihren Großeltern in Pankow schön gestickt überm Küchentisch gehangen hatte:
Die allerschönsten Blumen von allen sind die Kinder. OSCAR WILDE
Sie ließ sich ohne jeden Skrupel von dieser Stimmung forttragen, schloß die Augen, schaukelte auf einer Luftmatratze in der Lagune eines kleinen Südsee-Atolls, sprach leise-zärtlich mit dem Kind.
«…wenn du größer bist, dann fahren wir mit dem Papi mit… Nach Hawaii, nach Tahiti… Auf einem großen Rulle-Rulle-Dampfer. Und unsere Katharina kommt mit. Oder zu Oma und Opa in die Lüneburger Heide. Die haben drei Pferde, Hottehüs, und da kann die Kati dann drauf reiten…» Unwillkürlich begann sie, mit der Kleinen auf dem Schoß «Hoppe, hoppe Reiter» zu spielen.
Als die Musik im Radio abbrach, hörte sie die männlich-kehlkopfkranke Stimme einer permanent empörten Journalistin.
«Heute nacht, die S-Bahn-Bögen an der Knesebeckstraße, am Savignyplatz. Es herrscht ekliges Wetter, Nieselregen, die Vorgärten der drei, vier Lokale sind leer. Die Damen vom Gewerbe sind im Einsatz oder haben sich weit in ihre Hausflure zurückgezogen. Nicht mal vor der Kunstbuchhandlung steht ein verspäteter Student der nahen HdK, vor dem Lampengeschäft auf der anderen Straßenseite auch kein Interessent. Ein leerer Schulhof, ein verlassener Kinderspielplatz. Autos flitzen vorüber, der Kudamm ist nahe, doch wer achtet schon auf einen Mann mit einer schweren Tragetasche. Er sieht sich um, stellt die Tasche direkt unter die S-Bahn, da, wo die Tauben hinmachen, und geht dann weiter. In der Plastiktüte wird von einem Wachmann ein totes Baby entdeckt. Grausam zugerichtet. Ein Kindermord in Berlin. Kann ich Ihnen da einen guten Morgen wünschen? Nein… Also: zu den Fakten…»
Vera riß die Kleine hoch, drückte sie ganz fest an ihren Körper, knuddelte sie und brachte das Radio mit einem Stupser ihres Fußes abrupt zum Schweigen.
6.
Sie saßen in Jessicas Wohnung am Ludwigkirchplatz in Berlin und schienen dennoch so verloren wie die Besatzung einer Weltraumkapsel, die nach mißglückter Landung auf der Erde nun immer schneller hinauskatapultiert wurde ins endlose Nichts. Die Zeit dehnte sich, verlor jede Markierung, die Gegenwart war ein schmerzloser Schwebezustand, und immer wieder kam es vor, daß sie, übermüdet wie sie waren, bis weit über alle Grenzen erschöpft, nicht mehr auseinanderhalten konnten, was wann gewesen war, behaupteten, den Kaffee, der erst um acht gebrüht worden war, schon um sieben getrunken zu haben, auch Halluzinationen hatten, so zur Wiege rannten, weil sie glaubten, Yemayá hätte eben geweint.
Wuthenow hatte die Stirn ans Fenster gepreßt und sah nun schon seit einer halben Stunde zu, wie die Hausfrauen, Studenten und Rentner den Müll in ihre Tonnen füllten, registrierte es als etwas, das in einer anderen Welt geschah als seiner, hatte alle seine Energie gebunden und auf die eine Frage konzentriert, ob denn Yemayás Verschwinden irgendwie mit seiner Frau zusammenhing, ob sie mit dem MfS gemeinsam etwas unternommen hatte, ihn zu Fall zu bringen. Welche Logik, welche Kongruenz der beiderseitigen Motive: sie und ihre Rache und die große Chance der Falken im ZK, ihn zur Strecke zu bringen, ehe das Signal aus Moskau kam, auch in der DDR auf glasnost und perestroika zu setzen; mit ihm als neuer Nummer eins. Seine sowjetischen Freunde hatten es durchblicken lassen, liebten ja schon lange rote Kosmopoliten. Jessica und das Kind, schön, das hätte er womöglich noch abwettern, noch verkraften können, aber daß sie die Tochter eines hohen Nazi-Schergen war, das war das Ende für ihn. Da ließ sicher keiner
Weitere Kostenlose Bücher