Da hilft nur noch beten
mit sich reden, denn wenn sein Staat auch sonst zu wünschen übrigließ, einen großen Pluspunkt hatte er: seinen bedingungslosen Haß auf alle Nazi-Mörder. Was konnte Jessica dafür? Nichts natürlich, doch was half ihm das? Fragte man ein Mädchen, so wunderschön und wild wie Jessica, nach ihren Eltern, wenn sie einen auf den Boden warf, den Rücken nach unten, und wie eine Reiterin auf einem saß, fragte man sie da nach ihren Eltern, verhörte sie? Von ihrer Vergangenheit hatte er erst nach Yemayás Geburt etwas erfahren. Nichts ließ sich mehr rückgängig machen. Ja, du mußt die Konsequenzen ziehen …! Doch welche, und das große Spiel so schnell verloren geben? Sich in den Westen absetzen, hier als DDR-Beschimpfer durch die Sender tingeln, wie es zuhauf die Literaten taten? Mit Jessica zusammen ein neues Leben aufbauen? Er lachte. Hochkarätige Leute wie er brachten die Gleichgewichte derart durcheinander, daß mindestens drei Geheimdienste nichts unversucht lassen würden, um ihn sehr bald eines natürlichen Todes sterben zu lassen. Und mit einer neuen Identität in Dakota oben den Autohändler aus Polen oder Schweden spielen. Großer Gott, nein, dann lieber noch in den Sack niesen! Und Yemayá selber. Liebst du deine Tochter eigentlich? Eine bürgerlich-dämliche Frage. Was war die Welt? Nichts weiter als ein deterministisches Chaos, und alles war offen, lediglich die eine Hoffnung gab es, daß die Dialektik trug und sich die bessere Welt erkämpfen ließ, wenn man nur das Alte, Überholte… Aber was war das immer genau…? Du stehst hier nicht im Hörsaal vorn, es geht um deine Tochter, es geht um dein eigenes Leben! Er stöhnte auf, hatte immer nur Antworten zu geben gewußt, aber niemals gelernt, Fragen zu stellen. Nun gab es nur noch Fragen. Ob die CIA, ob der BND…? Was wollten sie von ihm? Hätte sich doch längst schon einer bei ihm melden müssen…
Jessica lag auf dem Sofa, hatte das Gesicht auf das glatte Leder gepreßt, fühlte am ganzen Körper Elektroden, Kanülen und Schläuche, sah einen Tropf über sich hängen, gefüllt mit kristallklarer Lösung, spürte den Katheter in der Blase, sah auf einem kleinen Bildschirm ihre Herzkurven flimmern, glaubte sich im Koma; doch nichts von allem war wahr, in ihrem gequälten Organismus war lediglich ein kleiner Schutzkontakt ausgelöst worden.
Mannhardt («Ich war ‘nem Herzinfarkt noch nie so nah wie heute…!») saß am Telefon und brachte seinen nahebei abgestellten Tee mit einer Kuchengabel dazu, immer schneller zu kreisen, so lange, bis der Mahlstrom stark genug war, einen geschickt hineingespuckten Kuchenkrümel bis auf den Grund des Glases zu reißen. Genauso würden die Atome seines Körpers draußen im Weltraum in ein schwarzes Loch gerissen werden, zehn Milliarden Jahre später, wenn es kein Berlin mehr gab, keine Bundesrepublik, kein Europa, keine Erde, keine Sonne und vielleicht auch keine Milchstraße mehr. Alles ist vergänglich, auch lebenslänglich. Er erschrak, denn aus Bad Brammermoor, der Psychiatrie, da wußte er, daß es bei Schizophrenen so begann, daß sich gegen ihren Willen formelhafte Wendungen ihrer bemächtigten. Glücklich ist, wer vergißt, was doch nicht mehr zu ändern ist. Na, bitte! Was geht mich denn Yemayá an, ich hab eigene Sorgen genug! Mein Sohn, meine Hoffnung; als Taxifahrer wird er enden. Meine Tochter keine Kinderärztin, packt bei Sarotti Tag für Tag Pralinen in die Schachtel, verdient das Geld für ein halbes Dutzend Vermummter. Meine Frau krieg ich als Wrack zurück, so richtig selbstverwirklicht.
Er wandte sich, ohne aber richtig zu lesen, dem Berliner Teil des Tagesspiegels zu, der immer noch herumliegenden Ausgabe von gestern, als Yemayá noch…
Der größte Verkehrseinsatz in der Nachkriegsgeschichte Berlins. Mit dem Prolog auf dem Kurfürstendamm beginnt morgen die Tour de France.
Ach ja, mal wieder so richtig verkehren, das wäre nicht schlecht; wie ging ‘n das eigentlich…?
1000 Personen bei Fahrrad-Demo.
Verkleidung am Brandenburger Tor angezündet.
Strafanzeige wegen Verdachts antisemitischer Äußerung.
Tag und Nacht wird die Bibel vorgelesen.
Moscheen oft zu klein.
BVG will U-Bahn-Verkehr nach Mitternacht einstellen.
Verkehr, Verkehr… Er freute sich, daß sein Pint steif wurde, als er jetzt am linken oberen Bildrand drei Bikinimädchen im Strandbad sah, doch er wehrte sich sofort dagegen: doch nicht in dieser Stunde!
Regelsätze der Sozialhilfe steigen.
Von 402 auf 412
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