Da liegt ein Toter im Brunnen - ein Krimi mitten aus der Provinz
Carl? Ein Verhör?«
»Nein, Judith, ein Interview. Beruhige dich.«
»Ich will aber morgen meinen Namen nicht in der Zeitung lesen müssen.«
»Versprochen.«
Sie lächelte herausfordernd und verlegen zugleich. »Also, ich will es mal so sagen: Serkan war als Mann nicht besonders attraktiv. Da sieht Hassan schon viel besser aus. Trotzdem hatte Serkan etwas. So das gewisse Etwas, das Frauen anzieht. Er hatte tolle Augen, war sensibel, ging auf deine Wünsche ein. Das mögen wir Frauen.«
»Tatsächlich? Ich dachte immer, ihr Frauen steht auf Raubtierbändiger!«
In diesem Moment erklang ein Summton, und ein rotes Lichtchen ging über der Eichentür an.
»Das ist das Zeichen, Carl. Die Chefin ist bereit, dich zu empfangen.«
»Wohlan«, sagte Bernstein, »Manege frei!«
Franziska von Roth erhob sich von ihrem Schreibtischstuhl und trat Bernstein mit einem Lächeln, das vollkommen unverfälscht wirkte, entgegen. Sie trug ein schwarzes Kostüm und eine Perlenkette. An ihren Ohren glänzte Goldschmuck. Sie war die Eleganz in Person und hätte in Bayreuth ebenso wie in Cannes eine gute Figur gemacht.
Ihr Alter hatte Bernstein nie erfahren, obwohl er bereits viele Stunden der Recherche investiert hatte – die Fürstin hütete das Geheimnis ihres Alters ebenso gut wie das Geheimnis ihrer Herkunft. Sie stamme von einem Hofgut aus Pommern, hieß es. Andere Quellen behaupteten, sie stamme aus Mecklenburg, aus verarmtem Landadel. Wo die Wahrheit lag? Vielleicht noch nicht einmal in der Mitte.
Offiziell gab von Roth als Geburtsort Berlin an und als Alter sechsundfünfzig. Wer allerdings die Möglichkeit hatte, einmal aus der Nähe in ihr tadellos geschminktes Gesicht zu blicken, mit ihren Altersflecken, ihren Falten in den Mundwinkeln und den Krähenfüßen, der konnte die offizielle Wahrheit glauben oder auch nicht.
Klar war nur eins: Sie sah blendend aus mit ihren meergrünen Augen und den geschwungenen Lippen. Sie wusste ihre Reize gezielt zum Einsatz zu bringen und kannte alle Kniffe der diplomatischen Kriegsführung.
»Entschuldigen Sie, Carl, dass ich Sie warten ließ. Ich habe mit dem Ministerpräsidenten telefoniert«, sagte sie mit der Beiläufigkeit, mit der andere von den Erlebnissen während ihrer Mittagspause erzählen.
»Kein Problem, ich habe einstweilen meine Kenntnisse in weiblicher Intuition vertieft«, sagte Bernstein.
»Bitte sehr, Carl.« Sie wies ihm einen Platz an der Besucherseite ihres schweren Holzschreibtisches zu. Bernstein sank in einen weichen, gepolsterten Stuhl mit bequemen Armlehnen. Von Roth hatte einen einfachen Stuhl, keinen Sessel, noch nicht einmal ein Sitzkissen.
Seit seinem ersten Interview vor vielen Jahren hatte er nach dem Grund dafür gesucht. Er wusste, sie tat nichts ohne Berechnung. Erst kürzlich hatte er in einem wissenschaftlichen Artikel die Antwort gefunden: Statistiken belegten, dass Menschen in bequemen Sesseln weicher und nachgiebiger verhandelten als Menschen auf harten Stühlen, ganz gleich in welcher Sache.
Bernstein platzierte sich auf seinem Stuhl so unbequem wie möglich und baute sein Mikrofon auf.
»Sie gestatten doch, Frau Bürgermeisterin.«
Sie warf ihm ein überlegenes Lächeln zu, dämpfte ihre Stimme und beugte sich zu ihm. »Carl, kommen wir gleich zur Sache. Wir wollten ursprünglich über die Modernisierungsmaßnahmen der Simultankirche sprechen, aber ich denke, die Ereignisse dieses Tages fordern uns im Augenblick mehr.«
»Ich bin dabei: Lassen Sie uns das Thema wechseln.«
»Ein Mord, in unserer Stadt, Carl. Das hat es noch nie gegeben.«
»Stimmt nicht, vor Jahren hatten wir die Brandstiftung mit Todesfolge in den Farbenwerken.«
»Das war etwas anderes. Das wissen Sie. Das hier, das ist ein Skandal, eine Katastrophe. Bitte missverstehen Sie mich nicht, mein Mitempfinden ist ganz bei den Angehörigen, die jetzt schwierige Zeiten durchstehen müssen. Vielleicht die schlimmsten in ihrem Leben. Ich verspreche, wir werden schnellstmöglich und völlig unbürokratisch alles in unserer Macht Stehende veranlassen, um ihnen den Schmerz des Verlustes zu erleichtern.«
»Darf ich das wörtlich zitieren, Frau Bürgermeisterin?«
»Wie? Ja natürlich, gerne. Dennoch: Bei aller Trauer und Betroffenheit: Wir müssen auch an das Wohl von Bad Löwenau denken!«
Franziska von Roth erhob sich würdevoll von ihrem Stuhl und trat ans Fenster, blickte kurz hinaus, dann drehte sie sich mit einer großzügigen Geste Bernstein zu. Im Gegenlicht wirkte
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