Da liegt ein Toter im Brunnen - ein Krimi mitten aus der Provinz
Beobachtungen zu unterschiedlichen Themen.
Rubin las:
Wir alle erhalten gerne Komplimente und freuen uns über Zuspruch. Wir ärgern uns ebenso sehr über Tadel und Kritik. Dabei dürfen wir eines niemals übersehen: Es kommt stets darauf an, wer es ist, der zu uns spricht. Es gibt Menschen, von denen ein Kompliment zu bekommen ist die schlimmste aller Beleidigungen.
Rubin schlug das Buch wieder zu.
Er würde heute Abend zu Ricardo gehen. Er war neugierig, was Bernstein erfahren hatte, und da war noch etwas: Er begann sich wieder in Bernsteins Gesellschaft wohlzufühlen, so wie früher, als sie unzertrennlich gewesen waren.
Rubin griff zum Telefon und rief seine Frau an. Er schilderte ihr seinen Tag, den neuen Fall, die vertrackte Ermittlung. Die Episode mit dem präparierten Stuhl ließ er aus, damit sie sich keine unnötigen Sorgen machte.
»Hattest du nicht gesagt, es würde in deiner Heimatstadt weniger turbulent zugehen?«, sagte seine Frau.
»Ja, das hatte ich auch einmal gedacht.«
Sie hatten eine Wohnung fußläufig vom Marktplatz entfernt gemietet. Sie betrachteten die Dreizimmerwohnung beide als Provisorium, bis sie ein geeignetes Haus am Stadtrand finden würden.
»Wann kommst du nach Hause, Christoph?«
»Es wird spät werden. Du brauchst nicht mit dem Essen auf mich zu warten. Kommst du alleine zurecht in der neuen Wohnung?«
»Ja, ja, keine Sorge. Ich werde unserer Nachbarin einen Besuch abstatten. Sie sagte heute Morgen, sie hätte Gäste, und wenn ich Zeit hätte, könnte ich auch kommen. Und Zeit habe ich ja jetzt.«
Nachdem er aufgelegt hatte, kreisten Rubins Gedanken sofort wieder um Serkan. Warum waren dessen Streitigkeiten, deren Anlässe banal gewesen waren, so wichtig für seinen Bruder Hassan? Standen sie im Zusammenhang mit der Tat? Was war das wahre Verhältnis der beiden Brüder? Und weiter: Welchen Einfluss hatte Serkans schwache Konstitution auf seinen Tod? War sie die Ursache, oder hatte sie nur beschleunigt, was ohnedies geschehen wäre?
Rubin ärgerte sich, dass er von der Gerichtsmedizin noch keine Nachricht erhalten hatte, und überlegte, ob er noch einmal telefonieren sollte. Ihm stand allerdings nicht der Sinn danach, wieder von einem gelangweilten Praktikanten eine Kostprobe behördlicher Arbeitsweise zu erhalten.
Er fragte sich vielmehr, ob Serkans plötzliche Neigung zu romantischer Liebesdichtung ein neues Licht auf den Fall werfen könnte. War er womöglich bis über beide Ohren verliebt gewesen? Wenn dem so wäre, dann könnte …
Ins Netz dieser Gedanken versunken, spürte Rubin plötzlich, dass sich etwas in seiner Umgebung verändert hatte. Er blickte unauffällig um sich, doch er erkannte nichts in der Dunkelheit. War es nur ein Gefühl? War es Einbildung?
Freitag horchte auf, er blickte nervös, bellte aber nicht.
Rubin glaubte, das Knacken eines Astes zu vernehmen, Rascheln im Laub. Eine Maus oder ein Vogel? Ein anderer Hund? Dann hätte Freitag längst angeschlagen.
Trotzdem, Rubin war sich sicher. Da war jemand, und er spürte: Dieser Jemand war wegen ihm da. Er verhielt sich nun vollkommen ruhig, er hörte seinen Atem; und wie aus weiter Ferne vernahm er die gedämpften Geräusche der Stadt. Er winkte Freitag mit einem Fingerschnippen zu sich, der sogleich gehorchte.
Noch immer sah und hörte Rubin nichts. Ihm stieg auch kein außergewöhnlicher Geruch in die Nase; da war nur das faule Aroma des feuchten Laubes.
Es war nicht mehr als ein Gefühl, eine Ahnung, doch auf eine unerklärliche Weise unmissverständlich: Jemand beobachtete ihn.
16
Das Schaufenster der Adler-Apotheke war neben den üblichen Plakaten, die für Hautcremes, Kopfschmerzmittel und Allergiepräparate warben, mit zahlreichen flachen und bunten Flaschen dekoriert. Es gab sie in Flieder und in Pastellrot, in Orange, Kornblumenblau und Moosgrün. Auf der Scheibe stand in großen Buchstaben:
»Jetzt neu – das Bad Löwenauer Heilwasser auch für unterwegs in handlichen Brustflaschen!«
Bernstein schüttelte den Kopf und betrat amüsiert die Adler-Apotheke, die hell erleuchtet und voller Menschen war.
Iris Adler, die Inhaberin, stand hinter der Verkaufstheke, bediente und beriet. Sie hatte rabenschwarzes Haar und helle Augen, trug einen weißen Kittel und wirkte darin wie in eleganter Abendgarderobe.
Sie sprach sehr deutlich und mit großer Selbstsicherheit. Ihre durchdringenden Augen folgten ihren Worten, und ihre Miene drückte Verständnis und Zuversicht aus. Niemandem
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