Da liegt ein Toter im Brunnen - ein Krimi mitten aus der Provinz
sie jünger als eben noch am Tisch.
»Eine Kurstadt wie unsere lebt von ihrem guten Ruf. Dieser gute Ruf ist die Währung, in der wir unsere Rechnungen begleichen. Von diesem Ruf leben wir alle, nicht nur die Klinik, die Sommerfestspiele, die Hotels und die Restaurants, wir alle, auch Sie, Carl, verdanken Ihre Freiheit dem Wohlstand unserer Stadt, und dieser fußt nicht zuletzt auf dem Heilwasser unseres Löwenbrunnens. Aber das Glück unserer Quelle, das erleben wir in diesen Stunden, ist zerbrechlich, vielleicht auch vergänglich wie unsere menschliche Natur. Sie wissen so gut wie ich, Carl, wir beherbergen jährlich ein Vielfaches der eigenen Bevölkerung als Kurgäste und Touristen. Die Menschen kommen wegen des Heilwassers zu uns. Dann finden Sie heraus, dass unsere Stadt noch weit mehr zu bieten hat. Sie fühlen sich wohl bei uns, nutzen unsere Angebote. Sie vertrauen uns. Und wir schenken ihnen unsere Gastfreundschaft. Sie kommen in unsere Stadt, weil sie von ihren Krankheiten genesen, weil sie ausspannen und sich erholen wollen. Sie wollen einmal wieder richtig tief durchatmen. Sie fühlen sich sicher bei uns. Wir tragen Verantwortung für sie.«
Von Roth war bei den letzten Worten immer näher an Bernstein herangetreten. Jetzt stand sie dicht neben ihm, schob einen Stapel Papiere auf dem Schreibtisch zur Seite und schwang sich landungssicher auf die Tischkante. Sie schlug die Beine übereinander und zeigte ein sanft verführerisches Lächeln.
»An diesen Dingen ist uns doch allen gelegen, Carl. Der gute Ruf der Stadt, das Ansehen, das wir genießen, das Vertrauen der Gäste in uns. Wir alle tragen Verantwortung für unser Gemeinwesen und arbeiten an ein und derselben Sache.«
»Welche Aufgabe haben Sie dabei dem edlen Ritter Bernstein zugedacht, Frau Bürgermeisterin?«
Von Roth sprang vom Tisch und stolzierte in Bernsteins Rücken.
»Sie werden den Mord vermutlich morgen in Ihrer Kolumne besprechen.«
»Es könnte darauf hinauslaufen, sofern nicht noch in den nächsten Minuten ein Stadtrat auf dem überfüllten Marktplatz aus Liebeskummer Amok läuft.«
»Sie haben eine blumige Phantasie, Carl, dafür lieben Ihre Leser Sie. Sie tun Ihre Arbeit, ich tue meine, ich will und kann Ihnen nicht reinreden. Aber ich möchte einen Appell an Sie richten.«
Von Roth stand nun wieder hinter ihrem Schreibtisch und öffnete ihre Arme.
»Vergessen Sie Ihre Verantwortung gegenüber Bad Löwenau nicht!«
»Ich denke den ganzen Tag an nichts anderes.«
»Das glaube ich kaum. Haben Sie schon Ihre Kolumne von heute Morgen vergessen?«
»Seien Sie ehrlich, die war harmlos.«
»Ich darf Ihnen Ihre eigenen Worte in Erinnerung rufen.«
Die Bürgermeisterin zog die aktuelle Ausgabe des Bad Löwenauer Anzeigers aus einem Stapel Papiere und schlug Seite vier auf, auf der täglich Bernsteins Kolumne erschien. Sie pflanzte eine Lesebrille auf die Nasenspitze und las:
»Was gab es gestern Neues? Nicht viel, will ich behaupten! Stadtrat Peter Röder gab im Rahmen der Stadtverordnetenversammlung eine Stellungnahme zu den aktuellen Streitigkeiten im Bauausschuss ab. Das interessierte außer ihn selbst allerdings kaum jemanden. Umso aufregender war das Drama, das sich zur selben Zeit am Marktplatz abspielte: Eine schwarz-weiße Katze hatte sich vor den gefletschten Zähnen eines hungrigen Rottweilers in die Krone unseres Ahornbaums gerettet. Das schleimtriefende Schoßhündchen eines gelangweilten Kurgastes hatte eine sehr spezielle Vorstellung von einem Mittagsmahl, welche die Katze offensichtlich nicht teilte. Rund dreißig Schaulustige verfolgten gebannt das Drama im Baum, das zu guter Letzt zugunsten der Katze endete.
Dreißig Zuschauer, das waren mehr als dreimal so viele Menschen, wie Stadtrat Röder gewinnen konnte – Tochter, Frau und Schwiegermutter inklusive.«
»Gut geschrieben«, sagte Bernstein, »vielleicht ein bis zwei Adjektive zu viel.«
»Ihre Darstellung der engagierten Arbeit unseres Stadtrates ist vollkommen inakzeptabel. Ich habe diesbezüglich schon mit Ihrem Verleger gesprochen.«
»Und was sagt Herr Sulzbach?«
»Er ist ganz meiner Meinung.«
»Kunststück, das ist er immer.«
Von Roths Miene verfinsterte sich, sie sprach jetzt scharf und durchdringend. »Carl, passen Sie auf! In dieser Mordangelegenheit dürfen Sie sich keine Extravaganzen erlauben. Das hier ist kein Spaß. Und vor allem: keine übereilten Spekulationen! Ein Türke – ermordet in Bad Löwenau! Ich will mir gar nicht
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