Da liegt ein Toter im Brunnen - ein Krimi mitten aus der Provinz
ausmalen, was Ihre Phantasie aus diesen Zusammenhängen machen könnte. Jede Verbindung mit Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit wäre ein Stich in das Herz von Bad Löwenau.«
»Wie kommen Sie darauf, dass ich einen rassistischen Hintergrund annehmen könnte?«
Von Roth musterte Bernstein verächtlich von oben bis unten. »Ich sage nur dies: Wir wissen beide, der Mini-Supermarkt ist in Bad Löwenau nicht unumstritten. Es gibt viele, die den Laden lieber heute als morgen geschlossen sehen würden. Und jetzt ist einer der beiden Geschäftsführer tot. Tot im Heilwasser des Löwenbrunnens. Deshalb appelliere ich an Sie: Schreiben Sie besser nichts in dieser Richtung. In unser aller Wohl.«
»Ich kenne doch gar nicht den Stand der polizeilichen Ermittlung.«
Von Roth stieß einen hämischen Laut aus. »Dass ich nicht lache! Sie sind doch dauernd mit unserem neuen Kommissar unterwegs. Keine Ahnung, was Sie da gemeinsam aushecken!«
Bernstein schoss von seinem Stuhl in die Höhe, rückte seine Krawatte zurecht und schaltete das Mikrofon aus.
»Rubin tut das, was er tun muss, Frau Bürgermeisterin. Er arbeitet an der Aufklärung des Falles. Er sucht die Wahrheit. Und die – mit Verlaub – suche ich auch! Guten Tag!«
15
Allmählich senkte sich die Dämmerung über die Stadt. Das helle Grau der Wolkendecke verwandelte sich in ein dunkles Grau, schließlich in ein schmutziges Schwarz, das von den Lichtern der Stadt blass angestrahlt wurde.
Nicht weit von der Buchhandlung Weimar entfernt befand sich der Bad Löwenauer Stadtpark. Seine Größe war kaum der Rede wert. Wenn man schlenderte, hatte man ihn in weniger als fünf Minuten auf einem Kiesweg durchquert, der von Platanen gesäumt war.
Es gab zwei Arten von Parkbänken: Die einen waren von der Volksbank gesponsert, die anderen vom Obstbauverein.
Es gab eine Statue in der Mitte des Parks: Sie stellte den Bürgermeister Karl von Otto in heroischer Pose mit stahlhartem Blick dar. Er war Amtsinhaber gewesen, als Rubin noch in Bad Löwenau lebte, und er konnte sich gut an den knorrigen Mann erinnern.
Es gab auch ein offizielles Hundeklo, eine Art Sandkasten mit Palisadeneinfassung.
Rubin wartete unter dem Schein einer Laterne, bis Freitag sein Geschäft erledigt hatte. Der Golden Retriever guckte unglücklich. Seine Laune stieg jedoch augenblicklich, als er eine ebenso schlanke wie stolze Magyar-Vizsla-Hündin witterte.
Ihr Frauchen wünschte Rubin einen guten Abend und startete ohne Vorwarnung ein typisches Hundebesitzergespräch, während Freitag und die Hündin einander beschnupperten.
»Jetzt muss ich aber wirklich weiter. Guten Abend. Dora, komm. Dora! Dora! Komm zu Frauchen! So ist’s brav.«
Mit der Dämmerung hatte sich ein feiner Nebel auf die Stadt gesenkt. Trotz der Feuchtigkeit, die Rubin wie ein nasser Mantel einhüllte, ließ er sich auf einer Bank nieder, eine von den Obstbauvereinsbänken. Er schlug die Beine übereinander und den Kragen hoch bis unter die Ohren.
Rubin kam ins Nachdenken. Er hatte nicht ungern in der Großen Stadt gelebt, hatte sich mit seiner Frau standesgemäß eingerichtet und alles Wesentliche besessen, was er brauchte. Dennoch hatte es immer wieder Momente gegeben, da sein Herz etwas anderes sagte als sein Verstand. Er spürte, dass es etwas, das ihm wichtig war, in der Großen Stadt für ihn nicht gab, ja, niemals geben konnte. Lange Zeit war ihm das nicht klar gewesen. Und er hatte auch keine Ahnung gehabt, um was es sich handeln könnte, schließlich hatte er nie einen bestimmten Mangel empfunden, es war eher eine Art von vagem Unbehagen gewesen, das ihn in manchen Momenten befallen hatte, vergleichbar einem leichten Hungergefühl nach einer eigentlich ausreichenden Mahlzeit.
Kaum saß er so da, da vernahm er aus seiner Manteltasche das Signal für eine eingegangene SMS .
Lieber Rubin, Bad Löwenau brennt, Fürstin tobt. Ansonsten nichts Neues. Besuche jetzt Iris Adler, später zu Ricardo. Kommst du? Habe einiges zu berichten. Acht Uhr wäre goldige Zeit. Ciao, Bernstein
Rubin verstaute sein Handy wieder in der Manteltasche und kramte das Buch hervor, das Weimar ihm für Bernstein mitgegeben hatte: »Das Leben ist zu wichtig, um ernst genommen zu werden« von Tom Smart. Er blätterte darin. Im fahlen Schein der Laternen wirkten die Seiten wie aus Pergament, wie aus einem uralten Stundenbuch, dabei war es erst vor fünf Jahren erschienen. Das schmale Büchlein bestand aus einer Ansammlung von kurzen Gedanken und
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