Da liegt ein Toter im Brunnen - ein Krimi mitten aus der Provinz
traumwandlerischer Sicherheit seinen Weg durch die Bücherstapel, bis er dicht vor Rubin zum Stehen kam.
Rubin stellte sich vor und sagte:
»Ganz herzliche Grüße soll ich Ihnen von Carl Bernstein bestellen.«
Weimars Augen blitzten auf. »Ei, Sie sind mit der flinken Feder von Bad Löwenau bekannt?«
»Wir sind gemeinsam zur Schule gegangen«, sagte Rubin.
»Ei, ei, ei, das wird ja immer besser, der neue Hauptkommissar ist ein eingeborenes Kind der Stadt!«
Rubin nickte, während Weimar seinen Hemdkragen zurechtrückte.
»Nun denn, junger Freund«, hob er an, »ich denke, dass Sie nicht aus rein literarischen Gründen den Weg zu mir auf sich genommen haben oder um einem alten Mann die Ehre eines Antrittsbesuchs zuteilwerden zu lassen. Sie sind des toten Serkans wegen hier.«
»So ist es.«
»Die Spatzen pfeifen es von den Dächern«, sprach er, begleitet von einer großen Geste, »Serkan ist tot. Die Welt hat eine Hoffnung weniger!«
»Ich habe gehört, er soll sehr belesen gewesen sein. Wie gut kannten Sie ihn, Herr Weimar?«
»Junger Freund, unser Serkan hat Bücher geliebt, er hat alles verschlungen, was er in die Finger kriegen konnte: sowohl Literatur als auch Kunstbücher. Wie heißt es so schön? Man weicht der Welt nicht sicherer aus als durch die Kunst, und man verknüpft sich nie sicherer mit ihr als durch die Kunst. Wir kannten einander wirklich gut und haben stundenlang nach Ladenschluss Gespräche geführt.«
»Worüber?«
»Serkan interessierte sich sehr für die Vergangenheit. Ich besorgte ihm alle Erzählungen von ›Tausendundeiner Nacht‹. Er wollte seine orientalische Tradition kennenlernen. Sindbad, der Seefahrer, Aladin und die Wunderlampe, Ali Baba und die vierzig Räuber. Auch den ›West-östlichen Divan‹. Das hat ihm überaus gefallen. Er war überdies sehr an bildender Kunst interessiert.«
»Hatte er Lieblingsmaler?«
»Chagall, das war sein Liebling, aus Gründen freilich, die sich mir entziehen. Denn ich empfinde seine Gemälde als zu bedeutungsschwer, aber da hat jeder sein eigenes Maß. Schließlich sieht jeder nur das, was er kennt – oder was er sehen will. Serkan hat auch selbst gemalt.«
»Haben Sie Bilder von ihm gesehen?«
Weimar verzog das Gesicht. »Serkan malte ausschließlich abstrakt, keine Formen, keine Figuren, keine Symbole. Mir gefiel es nicht, ihm umso mehr. Wir haben heftig über Sinn und Unsinn der abstrakten Kunst gestritten. Serkan war der Auffassung, der wahre künstlerische Akt sei ein Akt der Befreiung. Frei von Vorgaben und frei von Sinn. Man kann alles machen, auch wenn es nur Schmierereien sind. Ich sehe das freilich anders, Kunst ist für mich nach wie vor die Vereinigung von Können, Individualität und Vision!«
»Wenn Sie mit Serkan stritten, wie sah so ein Streit aus?«
»Ha, lautstark und hitzig bis zur Erschöpfung. Ein Zustand, der bei ihm leider die Regel war.«
»War Serkan ein Querkopf oder ein Revoluzzer?«
Weimar brach in ein herzliches Lachen aus, das vielfach verstärkt durch das Kellergewölbe hallte.
»Ei, wo ist der Unterschied, junger Freund? In jedem Fall war Serkan besonders, und der Umgang mit ihm war alles andere als einfach. Aber gerade das hat mich für ihn eingenommen. Es ist allemal besser, die Unbequemen zu ertragen, als die Unbedeutenden zu dulden.«
Rubin kam aus dem Staunen über Serkan nicht heraus. Immer wieder erfuhr sein Bild neue Ergänzungen. War Serkan ein Wunderkind gewesen, das in Musik, Literatur und Kunst bewandert war? Oder war Serkan nur ein leidenschaftlicher Dilettant, der alles ein bisschen und nichts richtig gemacht hatte?
Und in welchem Verhältnis standen seine künstlerischen Ambitionen zu seinem Tod? Hatten sie überhaupt etwas damit zu tun?
»Was hat Serkan außer ›Tausendundeine Nacht‹ noch gelesen?«, fragte Rubin nach einer Weile.
»Er las gerne die Abenteuer von Tom Sawyer und Huck Finn. Er träumte davon, auf dem Mississippi zu reisen. Er hatte, so schien es mir bisweilen, Sehnsucht nach einem anderen Leben. Dann allerdings, vor einem halben Jahr, änderten sich von heute auf morgen seine Vorlieben: Er kaufte nur noch Gedichte.«
»Stefan George etwa?«
Weimar runzelte die Stirn. »Woher wissen Sie das?«
»Der Hinweis einer zufriedenen Deutschlehrerin.«
Weimar rieb sich genüsslich über die Wange.
»Serkan sagte einmal, der Dichter kannte sein Herz besser, als er selbst es kennt. Aber er mochte nicht nur ihn, er wollte überhaupt nur noch Liebeslyrik lesen –
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