Da liegt ein Toter im Brunnen - ein Krimi mitten aus der Provinz
wäre es eingefallen, an ihren Empfehlungen zu zweifeln.
»Ja, das Präparat können Sie bedenkenlos einnehmen, Frau Schuster. Dreimal täglich nach den Mahlzeiten.«
»Danke vielmals, Frau Adler.«
Als sie Bernstein erkannte, lächelte sie verhalten. Es war kaum mehr als das Zeichen, dass sie seine Anwesenheit zur Kenntnis genommen hatte. Bernstein lächelte zurück, allerdings weniger verhalten.
Er wartete geduldig alle Kunden ab, die vor ihm waren. Ein Rentnerehepaar, das um ein Schlafmittel bat. Eine Frau von Mitte fünfzig, die ein Rezept abholte. Und die Dame vom Kiosk, die Bernstein gut kannte, bleich, kraftlos, matt, mit rot geränderten Augen, die dringend ein Grippemittel brauchte.
Iris Adler bediente alle mit einer Engelsgeduld. Als Bernstein allein mit ihr war, sagte er:
»Dreimal Paracelsus und Hippokrates! Beneidenswert, wie geduldig du dir die Geschichten der Menschen anhörst. In deiner Obhut ist es das größte Geschenk, krank zu sein. Wie ich im Schaufenster entdeckt habe, hast du eine neue Geschäftsidee, ich bin überwältigt: unser Bad Löwenauer Heilwasser als Flachmann für die Westentasche. Sehr passend!«
»Ich denke, der Grund deines Besuchs ist nicht in erster Linie ökonomischer Natur.«
»Warum nicht? Jeder Anlass, der mich zu dir führt, ist ein guter Anlass.«
»Du bist unverbesserlich, Carl. Was kann ich für dich tun?«
»Du kannst mir einen winzigen Moment deiner kostbaren Zeit schenken.«
»Schenken? Du willst meine Zeit umsonst?«
»Du kannst sie mir auch leihen, wenn dir das lieber ist.«
»Leihen heißt: dasselbe wieder zurückbekommen.«
»Das wäre mir das größte Vergnügen. Du schenkst mir deine Zeit, ich dir meine: am besten in Form eines bezaubernden Abendessens mit Kerzenschein und den sanften Melodien von Chopin oder Satie.«
»Kein Punk diesmal?«
»Das Feuer der Gefühle muss aus unseren Herzen lodern!«
»Gibt es keine andere Möglichkeit, meine Zeit von dir zurückzubekommen?«
»Mir fällt keine charmantere ein.«
»Mir schon, Carl, und bei keiner bist du mit von der Partie.«
Bernstein schnalzte genüsslich. »Oh Iris, du bist einfach unwiderstehlich, wenn du so widerspenstig bist.«
»Und du bist eine Klette. Aber wahrscheinlich habe ich nichts Besseres verdient. Schieß los, Carl, was willst du wissen?«
Bernstein blickte zum Schaufenster hinaus und zeigte auf den Löwenbrunnen. »Was hast du dort draußen gestern bemerkt?«
Augenblicklich verschwand ihre aufgekratzte Laune. Iris Adler wurde ernst; sie kräuselte die Lippen und sah Bernstein nüchtern an.
»Ich habe das gesehen, was ich immer sehe: den Brunnen, die Häuser, die Touristen, die Langeweile. Nichts Besonderes also. Und selbst wenn, würde ich es dir bestimmt nicht auf die Nase binden!«
Bernstein rückte seine Krawatte zurecht. Er trug noch immer seine Hollywoodkluft der siebziger Jahre. Er fühlte sich unwohl darin und bereute, dass er sich nicht die Zeit zum Umziehen genommen hatte.
»Und was hast du gestern Abend von deiner Wohnung aus gesehen?«
Iris Adler wohnte im zweiten Stock über der Apotheke und über der Praxis von Peng Ching. Sie teilte sich die großzügige Vierzimmerwohnung einzig mit einem launischen schwarzen Kater.
»Woher willst du wissen, dass ich zu Hause war?«
»An deinen Augen lese ich ab, dass du es warst.«
»Wenn du es so genau weißt, dann kannst du mir sicher auch sagen, was ich gesehen habe. Du weißt ja ohnehin alles besser und hast deine Urteile schon fix und fertig!«
»Unsinn, Iris, du weißt genau, dass das nicht stimmt.«
»Und du, Carl, weißt genau, worauf ich anspiele. Ich habe keine Lust, wieder als Karikatur in deiner Kolumne zu erscheinen. Wie hast du geschrieben: ›Unsere Apothekerin – die attraktivste Pillendreherin seit Lucrezia Borgia‹.«
»Meiner Seel, das war ein Scherz, Iris!«
»Was haben wir gelacht!«
»Wie, bist du etwa nicht attraktiv?«
»Nein, Carl, so kriegst du mich nicht rum.«
»Wer sagt, dass ich es darauf anlege?«
Iris Adler lachte höhnisch. Ihre Wangen zeigten Grübchen. Bernstein fuhr mit der Hand durch sein Haar und atmete herausfordernd tief durch. Er wollte einen Schnitt in ihrer Unterhaltung machen.
»Ich habe eben mit der Bürgermeisterin gesprochen«, sagte er weit weniger kampflustig, »sie bangt um den guten Ruf der Stadt. Der Tod Serkans könnte sich schlecht auf die Geschäfte auswirken.«
»Davor habe ich keine Angst. In meinem Fall ist das anders: Krank werden die Menschen immer.
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