Da liegt ein Toter im Brunnen - ein Krimi mitten aus der Provinz
tanzen!«
Dann riss Bernstein mit Schwung hinter dem überraschten Kulturmanager die Tür auf und stürzte aus der Apotheke. Draußen, in der matten Dunkelheit, zog er seine Kopfhörer auf die Ohren und stellte die Lautstärke seines Smartphones auf Maximum: Die Gitarren krachten los, das Schlagzeug setzte ein; eine heisere Stimme schrie ihre Wut in die Welt hinaus, emporgetragen von genialem Lärm und rauschender Energie.
17
Unterdessen suchte Rubin Hassan zum zweiten Mal auf. Er traf ihn an, als er gerade seinen Laden abschloss. Es war kurz nach sieben Uhr. Ein leichter Regen fiel, der sich wie frischer Tau auf das Pflaster legte. Der Marktplatz war wie ausgestorben, noch menschenleerer als sonst zu dieser Stunde. Niemand streckte sich über den Brunnenrand, um ein Gefäß großzügig mit Heilwasser zu füllen. Einsam spien die goldenen Löwenfiguren vor sich hin, deren Glanz im Licht der Laternen gespenstisch blass erschien.
Freitag schnüffelte an Hassans Hosenbeinen. Im Vergleich zum Nachmittag war der Golden Retriever jetzt weniger zurückhaltend. Trotzdem wertete Hassan die erwachte Neugierde Freitags nicht als Aufforderung, im Gegenzug dessen Kopf zu tätscheln.
Rubin sah, dass die Haut um Hassans linkes Auge blau und gelb schimmerte, das Lid war geschwollen.
»Tut es weh?«, fragte er.
»Nicht der Rede wert.« Hassan steckte den Ladenschlüssel in seine Jackentasche.
»Kein Kunde heute?«, fragte Rubin.
»Nur ein einziger. Eine alte Frau, der Serkan einmal den Computer eingerichtet hat. Sie hat Obst und Gemüse eingekauft.«
Rubin lächelte und sagte:
»Ich möchte einen Blick in Serkans Wohnung werfen. Haben Sie einen Schlüssel?«
Hassan nickte.
»Dann kommen Sie. Es ist mir lieber, wenn Sie die Tür öffnen.«
Unterwegs fragte Rubin: »Seit wann hatte Ihr Bruder die Wohnung?«
Hassan berichtete, dass Serkan bis vor einem Jahr bei ihm und seiner Frau Gülcan gelebt hatte. Doch es sei, setzte er schnell hinzu, nicht gut, wenn ein junger Bursche bei einem verheirateten Paar im Haus lebte. Zuvor hatte Serkan zusammen mit der Mutter gelebt, die wiederum seit dem Tod ihres Mannes vor zehn Jahren im Haus eines Onkels lebte. Serkans und Hassans Vater war an einem Herzinfarkt gestorben. Seitdem war Hassan das Familienoberhaupt.
Hassan sprach nur widerwillig von seiner Familie und gab nur das Nötigste preis. Rubin konnte ihm zumindest so viel entlocken, dass Serkan, als er im Haus des Onkels gelebt hatte, sich dort wie ein Klotz an dessen Bein vorgekommen war. Rubin entnahm Hassans Worten, Serkan war ihm dankbar gewesen, dass er vorübergehend in seinem Haus aufgenommen worden war.
Serkans Wohnung war zu Fuß in einer Viertelstunde zu erreichen. Trotzdem war er jeden Morgen mit dem Bus zur Arbeit gefahren. Die Wohnung befand sich in einem Mehrfamilienhaus in der Karl-von-Otto-Siedlung, ein Wohngebiet mit einfachen, teilweise schon baufälligen Häusern, das in den achtziger Jahren als soziales Renommierobjekt des Bürgermeisters sehr schnell und sehr kostengünstig errichtet worden war. Niemand war gewillt, mehr Geld als nötig in die Renovierung der Häuser zu stecken, denn sie waren touristisch nicht verwertbar.
Alle Häuser in der Siedlung sahen mehr oder weniger gleich aus. Nur in der Farbe und Form der Gardinen unterschieden sie sich voneinander.
Hassan besaß den einzigen Zweitschlüssel zu Serkans Wohnung. Als er die Tür aufsperrte, war er erstaunt, dass die Wohnung zweimal abgeschlossen war.
»Das macht Serkan nie.«
Als sie eintraten, bat Hassan Rubin, die Schuhe auszuziehen, und warf zugleich einen misstrauischen Blick auf Freitag. Rubin sagte:
»Keine Angst, er ist stubenrein.«
Beide Männer sahen, dass der Teppichboden der Wohnung stark verschmutzt war: Er war übersät mit den dunkelgrauen, matschigen Fußabdrücken von Straßenschuhen.
»Das darf unsere Mutter niemals sehen!«, rief Hassan.
Rubin nahm einen schalen Geruch wahr. Die Wohnung, die stark geheizt war, musste lange Zeit nicht gelüftet worden sein.
Kurzzeitig spielte Rubin mit dem Gedanken, die Spurensicherung zu rufen. Doch er verabschiedete die Überlegung wieder, denn er sah keinen Sinn darin. Wie lange würde es dauern, bis die Kollegen ihre Fingerabdrücke und DNA -Untersuchungen ausgewertet hatten? So lange, wie die Blutuntersuchung brauchte? Nein, Rubin setzte auf das, was ihm zur Verfügung stand, ja, was jedem Menschen zur Verfügung stand, wenn er es nur richtig einzusetzen wusste: Augen, Ohren, Nase.
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