Da liegt ein Toter im Brunnen - ein Krimi mitten aus der Provinz
der Karte. Er hielt sie dicht vor die Augen, kippte sie nach hinten, tastete mit gläsernen Blicken Wort für Wort wie ein Scanner ab. Dann murmelte er, ohne die Augen von der Karte zu lösen:
»Eindeutig: Diese drei zierlichen Zeilen stammen aus der Feder einer Frau, und zwar einer deutschen!«
Rubin runzelte die Stirn. Bernstein scannte weiter und nickte unablässig mit dem Kopf. Schließlich warf er die Karte schwungvoll auf den Tisch, klatschte in die Hände und rief:
»Wunderbar, ich hab es, alle Zweifel ausgeschlossen: Diese Zeilen hat eine junge deutsche Frau Ende zwanzig geschrieben, die in der Provinz zur Schule gegangen ist und eine äußerst ordentliche Schülerin war. Sie hat ein verträumtes Wesen, das sie sich allerdings erst seit Kurzem zugesteht. Ebenfalls erst seit Kurzem verspürt sie einen unbändigen Freiheitsdrang, der ihr hinwiederum nicht ganz geheuer ist.« Triumphierend riss sich Bernstein die Brille von der Nase.
Ricardo staunte. »Bin ich baff, Carlo, woher weißt du?«
Rubin schmunzelte und sagte: »Auf die Erklärung bin ich auch schon sehr gespannt.«
Bernstein legte den Finger an die Lippen und anschließend an die Nasenspitze. Er ergriff erneut die Karte und hielt sie in die Höhe.
»Hier, seht her, das Erste, was ins Auge springt: Die Worte sind mit weichem Schwung geschrieben, ein wenig verspielt, ein wenig zärtlich, doch stets hundertprozentig lesbar. Wir haben es zweifelsohne mit einer Frau zu tun.«
»Das ist nicht schwer zu erraten«, sagte Rubin.
»Warte ab, mein Lieber, es geht weiter. Der Text ist mit Tinte geschrieben, und zwar nicht irgendwie, sondern in exakt der Manier, in der jemand schreibt, der seit Jahren an das Schreiben mit Tinte gewöhnt ist. Die Zeichen unserer Autorin haben einen weicheren Schwung als mit Kugelschreiber gekritzelt. Die Federführung unserer Dame ist sehr sicher und bestimmt, sie schreibt seit mindestens zwei Jahrzehnten auf diese Weise. Das bedeutet, die Gute muss Ende der achtziger Jahre, Anfang der neunziger Jahre eine Provinzschule besucht haben, wo auf Tintenschrift großen Wert gelegt wurde. In den Großstädten ist die Tinten-Tradition nicht mehr lebendig.«
Bernstein sah lange in die Runde, bevor er fortfuhr.
»Sie war und ist durch und durch eine ordnungsliebende Person, was sich unschwer an der akkuraten Linienführung ablesen lässt: gerade und ebenmäßig. Man könnte meinen, sie habe die Zeilen auf einer imaginären Linie geschrieben. Des Weiteren erstaunt jedoch dies: So ordentlich und sauber sie schreibt, sie gestattet sich dennoch gelegentlich kleine emotionale Extravaganzen. Die Farbe der Tinte ist Flieder. Ein nüchterner Mensch hätte Blau oder Schwarz gewählt. Dann beachtet bitte dies hier!«
Bernstein zeigte auf zwei Ausrufezeichen: auf dem Kopf stehende Dreiecke, die auf winzigen Herzchen als Punkt balancierten.
»Süß, nicht wahr? Wir schließen, sie ist bisweilen auch verträumt, hat eine romantische Seite. Das erhellt aus der Art der Ausrufezeichen. Man kann das kitschig finden oder nicht. Sie selbst übrigens hatte auch Zweifel, ob eine solch naive, ja mädchenhafte Anwandlung zu ihrem Alter passt. Die Schwünge der Ausrufezeichen sind bei Weitem nicht so fließend wie der Rest. Sie hat diese Form der gefühlsseligen Verzierung noch nicht allzu oft geübt.«
Ricardo und Rubin sahen sich erstaunt an. Rubin fragte sich, ob die Erläuterung vielleicht am Ende doch wieder nur ein typischer Bernstein sein könnte. Doch das war ihm jetzt egal: Es klang auf eine gewisse Weise plausibel. Er lauschte weiterhin gespannt seinen Ausführungen.
»Seht her, so ordentlich die Karte im Ganzen verfasst ist, die Schreiberin muss gleichwohl Anflüge von Anarchie in sich gespürt haben. Sie schreibt in den drei Zeilen zweimal über die Mittelbegrenzung, die den Schreibteil der Karte vom Adressfeld trennt. Das sagt uns: Sie will Grenzen überschreiten, will aus dem Ungemach der Ordnung, in dem sie eingepfercht ist, ausbrechen! Die Schrift hinter der Begrenzungslinie ist kräftiger und raumgreifender, aber weit weniger geschmeidig, nahezu ohne Eleganz. Die Autorin scheint der neuen Freiheit nicht ganz zu trauen. Denn hinter der Grenze befindet sie sich auf Neuland, tastend und suchend. Wen sie indessen sucht, dürfte ohne Weiteres klar sein: den Adressaten!«
Bernstein hielt inne und nippte zufrieden an seinem Rotwein.
Es herrschte Stille.
Rubin leerte sein Bier.
Ein »Hm« entrang sich seiner Kehle.
Bernstein grinste
Weitere Kostenlose Bücher