Da liegt ein Toter im Brunnen - ein Krimi mitten aus der Provinz
Rubin.
Bernstein klappte den Deckel seines Laptops zu und sah ihn neugierig an.
»Ich kann sagen: Ich kenne Serkan jetzt besser und beginne ihn zu begreifen.«
»Bin ich gespannte«, sagte Ricardo mit großen Augen, gerade in dem Moment, als Caterina das Bier für Rubin brachte. Sie hatte noch immer eine düstere Miene und vermied es, Bernstein direkt anzusehen.
»Bitte sei mir nicht mehr böse, Caterina«, säuselte Bernstein. »Ich kann nicht anders schreiben.«
Caterina antwortete mit einem Augenaufschlag, der alles und nichts bedeuten konnte.
Rubin nahm einen kräftigen Schluck Bier, wischte sich über die Lippen und begann sehr langsam und überlegt:
»Soweit ich sehen kann, hatte Serkan ein beträchtliches körperliches Handicap. Ich weiß noch nicht, welches, aber ich bin mir sicher, dass es sein Leben stark beeinflusst hat. Jetzt ist die Frage: Was macht ein Mensch für gewöhnlich in dieser Situation?«
»Nun, er kann den guten deutschen Durchschnittsweg beschreiten«, sagte Bernstein, »und den ganzen Tag mit Jammern verbringen und sein Leben zu einer wandelnden Anklageschrift machen. Oder er kann seinen eigenen Sinn jenseits des Handicaps suchen.«
»Genau das, scheint mir, hat Serkan getan. Er hat sich in zahllose Aktivitäten gestürzt, er hat Gitarre gespielt, hat gemalt und Bücher verschlungen. Buchhändler Weimar erzählte mir, Serkan habe sich besonders für die Geschichten aus ›Tausendundeiner Nacht‹ interessiert. Ich habe die Bände bei ihm zu Hause gesehen. Ich frage mich, warum sich ein junger Mann für Märchen erwärmt?«
»Oh, das ist nicht schwer zu erklären«, sagte Bernstein, »Märchen sind das Herz einer jeden Nation, und wer die Mentalität eines Landes näher kennenlernen will, der tut gut daran, den Märchenschatz zu heben und die Statistiken und Analysen den Erbsenzählern zu überlassen.«
»Dann haben unsere Eltern ja instinktiv richtig gehandelt, als sie uns auf das Gebrüder-Grimm-Gymnasium geschickt haben«, sagte Rubin.
»Das will ich wohl meinen! Wer wissen will, wie wir Deutschen sind, der sollte ›Schneewittchen‹ lesen und ›Aschenputtel‹. In jedem Deutschen steckt ein Hans im Glück und ein böser Wolf, eine arglistige Königin, ein unschuldiges Dornröschen und viele, viele einfache Bauern von brachliegenden Feldern, Schuster, Schankwirte und Droschkenkutscher. Ich bin überzeugt, Serkan ist so verfahren. Er, der meines Wissens in Bad Löwenau aufgewachsen war, suchte das Herz seiner eigenen Kultur, er war auf der Suche nach dem Sindbad und dem Ali Baba in sich selbst.«
»Isse wahre!«, warf Ricardo ein. »Wahrscheinlich wollte Serkan wisse, wie war seine Volke in alte Zeite. Habe iche auch mal versucht zu wisse, habe gelese Ovid – Mamma mia – veni, vidi, vici …«
Ricardo verdrehte die Augen, Rubin und Bernstein sahen einander ungläubig an, dann sagte Rubin nach einem Räuspern:
»Hier, das habe ich auf Serkans Schreibtisch gefunden.«
Rubin entfaltete das Zulassungsschreiben der Universität in der Großen Stadt auf der Tischdecke.
»Bei Tizian, Goya und da Vinci«, rief Bernstein, »der Knabe hatte sich einiges vorgenommen!«
»Ich habe außerdem ein Werk zur Kunstgeschichte auf seinem Schreibtisch gefunden und Künstlerbiografien, alle penibel durchgearbeitet. Er wusste, was er wollte. Etwas in seinem Leben muss sich verändert haben; etwas in seinem Inneren, denn sein äußeres Leben lief so weiter wie bisher. Er hat noch immer bei seinem Bruder gearbeitet, der von seinen Plänen nichts wusste.«
»Dann isse alles klare«, sagte Ricardo, »Serkan hat verlore seine Herze! Und neue Liebe isse wie neue Lebe!«
Rubin griff in die Innentasche seines Sakkos und legte die Kunstpostkarte auf den Tisch.
»Oh, der sinnreiche, rätselhafte Chagall«, sagte Bernstein. »Eine selige Träumerei in Blau!«
»Ich habe die Karte in Serkans Kunstbuch gefunden. Dreht sie einmal um.«
»Mein Türkisch reicht nicht aus, um die Worte zu übersetzen«, sagte Bernstein, »irgendetwas mit ›Himmel‹ und ›weinen‹ und ›kennenlernen‹ steht da.«
»Es heißt: ›Wenn ein Engel einen Engel trifft, dann weinen die Himmel vor Glück‹.«
»Bellissimo!«, rief Ricardo gerührt. »Wenn ich das sage Caterina, wird kriege Nasses in Auge!«
»Hassan sagt, es seien Fehler darin. Das bedeutet, der Verfasser ist kein türkischer Muttersprachler«, bemerkte Rubin.
Bernstein schielte über seine Lesebrille und begann entschlossen mit der Untersuchung
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