Da liegt ein Toter im Brunnen - ein Krimi mitten aus der Provinz
listig, noch immer mit seiner Ausführung hochzufrieden, als schließlich Caterina mit dem Essen erschien. Ricardo sprang vom Stuhl auf und verkündete:
»Amici, hier ist lecker Mailänder Schnitzel mit Spaghetti aglio e olio und extra Parmesano! Buon appetito! Lasse schmecke!«
Später überquerte Rubin auf dem Nachhauseweg zum letzten Mal an diesem Tag den Marktplatz. Freitag lief munter vorneweg.
Plötzlich überfiel den Hauptkommissar wie schon am Nachmittag im Park ein seltsames Gefühl. Er spürte wieder den unsichtbaren Schatten eines Verfolgers und meinte, leise Schritte zu hören, die stehen blieben, wenn er stehen blieb.
Rubin begab sich nicht auf den direkten Weg nach Hause, sondern ging ein paarmal im Karree, bis ihm die Schritte nicht mehr folgten.
Dann war wieder alles still. Rubin verharrte mit Freitag eine Weile im Schutz einer Hausecke. Als er sich in Bewegung setzte, vernahm er ganz in der Nähe dumpf die Glockenmelodie von »Bruder Jakob«.
19
Am nächsten Morgen, kurz nach neun Uhr, saß Rubin am Schreibtisch seines Büros und verrührte eine Extraportion Milch in seinem Earl Grey. Der Duft von Bergamotte stieg ihm angenehm frisch in die Nase. Der erste Schluck war ein Genuss.
Zuvor hatte sich Rubin in Erinnerung des gestrigen Morgens von der Stabilität seines neuen Bürostuhls überzeugt. Er war auf der Hut gewesen, schließlich konnte er nicht wissen, zu welchen Späßen Hausmeister Schulte diesmal aufgelegt sein könnte.
Doch heute Morgen war alles ruhig. Abgesehen von einem klirrend kalten, stürmischen Wind, der sich fauchend in Dachrinnen und Fenstersimsen verfing.
Rubin blätterte in dem Buch von Tom Smart, das er vergessen hatte, Bernstein zu geben. Ein Satz sprang ihm ins Auge:
»Ahnungen sind Zeichen, von denen wir bloß noch nicht wissen, was sie uns sagen wollen.«
Er nahm einen weiteren Schluck Earl Grey, während Freitag zufrieden auf seiner Decke in einer Ecke des Büros lag und an einem getrockneten Schweineohr kaute, das Rubin ihm spendiert hatte. Von Zeit zu Zeit hob er den Kopf.
Rubin schlug das Buch zu und Seite vier des Bad Löwenauer Anzeigers mit Bernsteins Kolumne auf. Über dem Artikel strahlte das gut getroffene Porträt des Autors. Rubin las:
Da liegt ein Toter im Brunnen
Liebe Bad Löwenauer,
wie immer, so stelle ich auch heute wieder die Frage: Was gibt es Neues, was hat uns der gestrige Tag gebracht?
Heute fällt die Antwort dramatisch aus – er hat uns einen Toten gebracht, der am Morgen in unserem Wahrzeichen lag, im Löwenbrunnen. Unser Heilwasser konnte ihn nicht mehr retten. Serkan Arslan, Mitinhaber des Mini-Supermarktes am Marktplatz, ist das Opfer, ein 24 - jähriger Türke, aufgewachsen in Bad Löwenau. Ein junger Mensch, der Träume hatte. Die Zulassung zu einem Kunststudium hatte er in der Tasche. Die Zukunft erwartete ihn mit weit geöffneten Armen. Überdies war er seit Kurzem verliebt, der Himmel über ihm hing voller Geigen.
Doch offensichtlich spielte eine Geige falsch.
Ja, Serkan Arslan ist tot. Sein Ableben wirft schreckliche Fragen auf. War derjenige, der ihn in den Brunnen gestopft hat, auch zugleich sein Mörder? Oder haben wir es mit einer Verkettung von unglückseligen Zufällen zu tun? Gesetzt, ein unbekannter Finsterling hat Serkan auf dem schlechten Gewissen, warum platziert der Mörder sein Opfer dann so schändlich vor aller Augen, in unser aller Heiligtum, dem Heilwasserbrunnen am Marktplatz? Will er sagen: In Bad Löwenau stimmt etwas nicht? Und warum will niemand von der Bevölkerung etwas bemerkt haben? Das Schweigen wiegt schwer wie ein Sargdeckel.
Es ist kein Geheimnis, dass der Mini-Supermarkt, den Serkan gemeinsam mit seinem Bruder Hassan geführt hat, nicht jedem in Bad Löwenau Vergnügen bereitet. Für den Inhaber eines benachbarten alteingesessenen Cafés ist die Sache klar: Von dem Mini-Supermarkt geht seit Jahren eine schleichende Gefahr aus. Natürlich, wie könnte es anders sein? Wir wissen ja alle: Neben Großbanken und Versicherungen ist ein Minimarkt die Hauptgefahr unserer Wirtschaft!
Unsere Bürgermeisterin Franziska von Roth zeigte sich gleichfalls tief besorgt um den guten Ruf der Stadt. Wie werden unsere treuen Kurgäste reagieren? Kann man in Bad Löwenau nach Sonnenuntergang noch sicher über die Straßen bummeln? Und mehr noch: Wie wird sich der Todesfall auf unseren Kultursommer auswirken, wenn angesehene Künstler Bad Löwenau zu einem Treffpunkt internationaler Prominenz
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