Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)
Verstand, bis sie müde wird von jedem Gedanken.
Aber Jenny ist stark. Sie hat schon als kleines Kind gelernt zu kämpfen. Und sie weiß, dass sie niemals damit aufhören wird. Denn Jenny liebt das Leben. Aufrichtig und unvoreingenommen. Sie ist nicht leicht zu verletzen, sie ist nicht nachtragend, sie ist nicht aufbrausend oder bösartig im Zorn.
Sie ist alles das, was niemand sieht.
Der nicht erkennt.
Jenny spürt jeden einzelnen Luftzug auf ihrer Haut tanzen. Sie hört das Gras flüstern. Sie sieht das Licht im Himmel seine graublauen Bilder zeichnen, mit weißem Hintergrund oder stürmischen Nachtgewändern. Und auch auf dem Boden sieht Jenny die Regenpfützen, die alles widerspiegeln, was am Himmel steht, die alles auffangen, was vom Himmel fällt; die alles in sich tragen – die Zeit, die Geheimnisse, die fließenden Erinnerungen.
Jenny versteht jeden Satz, den man zu ihr sagt. Auch wenn sie manchmal keine Antwort gibt. Jenny versteht jedes Schweigen, mit dem man ihr gegenübertritt, auch wenn sie manchmal zurückschweigt. Sie gibt keine falschen Versprechungen, sie schenkt keine leeren Hoffnungen, sie lügt nicht, um die Wahrheit zu bestreiten.
Sie ist beständig in ihrem Fortlauf.
Beständig in ihrem Voranlaufen.
Jenny mag Orangen im Winter, Butterbrote im Frühling, Johannisbeeren im Sommer und Schokolade im Herbst. Ihr Körper ist weich und kühl und zart wie der einer Elfe. Wenn man sie berührt, bekommt sie Gänsehaut, weil ihre Empfindlichkeit größer ist als ihr Empfindungsvermögen. Ein Schauder durchströmt ihr Bewusstsein, ein Stromschlag versetzt sie in Trance, und kurz darauf verschwindet sie hinter einer gläsernen Wand, die noch nie ein Mensch durchdrungen hat. Denn wenn es eines gibt auf dieser unerschrockenen Welt, vor dem Jenny Angst hat, dann ist das menschliche Nähe. Sie hat sich noch nie an einen Augenblick gebunden, der einem anderen gehört. Sie hat noch nie in einem Raum verweilt, der nicht ausreichend Platz für ihre Stille gewährt. Und obwohl sie manchmal einsam ist und davondriftet, weg von dem Dasein, das ihr gehört, möchte sie sich nicht verlieben.
Niemals. Das hat sie sich geschworen.
Jedes Jahr aufs Neue.
Mit jedem Lichtrausch.
In jeder Silvesternacht.
Denn Jenny hat Angst davor, irgendjemanden zu nah an sich heranzulassen; so nah, dass er verletzt werden könnte, und sie auch. Dabei ist ihr Herz größer und umfangreicher als jede Zeit, die sie benennen kann.
Jenny Emmet. Sie verlässt die Straße und betritt die Ausläufer des Schlossparks. Die weißen Säulen am Zugangsportal verstecken sich unter Efeuranken und einer zerrissenen, bunten Kindergirlande, die irgendwer dort vergessen haben muss. Hier werden ständig Geburtstage gefeiert, so viele, dass die Zahl der Sterbenden unberechenbar wird.
Jenny klettert auf eine alte Steinmauer, um darauf zu balancieren, so wie sie es als kleines Kind gerne getan hat. Sie streckt ihre Arme aus, tastet nach der Luft und dem darin gefangenen Wind. Sie atmet Kieselsteingeflüster ein und den Geruch von ertrinkenden Dornenhecken. Der Regen rinnt über Jennys Gesicht, über ihren Nacken, den Rücken hinab, über ihre Beine bis hin zu ihren nackten Zehen. Die rauhen Mauersteine fühlen sich fremdartig an, und trotzdem sind sie ihr vertraut.
Als junges Mädchen hat Jenny jeden Tag in dem großen Park am Schloss gespielt. Sie ist über jeden Baumstamm und jede Mauer balanciert, die sie finden konnte, und ihre Mutter hat jedes Mal ihre Hand gehalten, damit sie nicht stürzt oder fällt. Aber Jenny ist nie gefallen. Sie war schon immer gut darin, das Gleichgewicht zu halten, sie hat nie eine unbedachte Bewegung in die falsche Richtung gemacht. Sie hat sich immer vorangekämpft. Der davonhastenden Zeit ihres Lebens hinterher.
Jenny Emmet. Das einzige Wintermädchen im Frühlingspark. Sie steht lächelnd unter einer Trauerweide, ganz in der Nähe vom Schlossteich. Um sie herum freuen sich ein paar Enten und schnappen aufgeregt nach dem zerrupften Brot. Es ist bald verschwunden, denn Jenny hat nur eine kleine Papiertüte mitgebracht. Aber die Enten bleiben trotzdem, sie quaken sich an und lassen sich gemächlich zu Jennys Füßen nieder. Sie mögen dieses stille Mädchen. Sie mögen den unsichtbaren Raum, der sie umgibt. Und sie mögen den Regen – die prasselnden Tropfen, das raschelnde Gras. Ja. Sie mögen diese Tageszeit, zu der keine kleinen Kinder an ihren Federn ziehen und mit Erdklumpen und Ufersteinen nach ihnen
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