Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)
werfen. Wenn es nach ihnen ginge, dann könnte dieser Augenblick auf ewig verweilen. Aber auch wenn er vorbeigeht, werden sie zufrieden sein. Denn ein neuer Regen wird kommen. Und auch das Gras wird wieder rascheln.
Zeit kommt. Zeit geht.
Zeit kommt erneut.
So einfach.
Ist dieses Gefüge.
Die Enten laufen davon, weil ein Hund bellt. Jenny blickt ihnen nach, bis sie nicht mehr zu sehen sind. In ihrem Kopf wird es Winter, dabei ist es noch lange hin bis zum Herbst, der Sommer hat gerade erst begonnen. Aber Jennys Gedanken zittern. Sie ist müde. So unendlich müde. Seit vielen Jahren schon. Ihre Beine sind schwach, wie die einer alten Frau. Ihre Augen klappen zu, obwohl sie so viel sehen möchte. Ihr Herz holpert durch den Tag, rattert durch die Nacht, weckt sie am Morgen mit einem unruhigen Schlag und versinkt gurgelnd im Verlauf des Nachmittags.
Jenny Emmet.
Mädchen im Regen, Mädchen im Schnee.
Es ist Schönheit, sie zu betrachten. Es ist Glück, sie zu kennen. Es ist Leichtigkeit, ihre Bewegungen nachzuvollziehen. Es ist ein Wunder, dass es sie noch gibt.
Sie steht dort, regungslos im Regen und fühlt das Gras unter ihren Füßen, es kitzelt zwischen ihren Zehen, es ruht sanft unter ihren Fersen und verspricht ihr ein Stück dieser tragenden Beständigkeit.
Sommergewittertosen erklingt aus der Ferne.
Wolkenumbruchwinde zerren an der Zeit.
Ein Lichtnebel umhüllt die Stille.
Was mehr. Könnte dort sein?
Jenny ist mutterseelenallein an diesem Ort, jedenfalls denkt sie das. Aber auf einem Baum, nicht allzu weit von ihr, sitzt ein Junge und hält sich an diesem Augenblick fest. Er sieht Jenny unter der Trauerweide stehen und möchte weinen, obwohl er nicht weiß, warum es ihn traurig macht, dieses wunderschöne Mädchen anzusehen. Gleichzeitig möchte er lächeln, weil der Regen so herrlich auf ihre nackten Schultern fällt, während der Wind mit ihren durchnässten Haaren spielt und die langen Fangarme der Trauerweide sie umtanzen.
Als Jenny aufschaut, treffen ihre Augen den Blick des Jungen. Sie fragt sich, warum er alleine zwischen den dichten Zweigen des Baumes sitzt.
Mitten im Regen.
In der Unbeschreiblichkeit.
Dieser verschwommenen Eindrücke.
Jenny hat den Jungen noch nie zuvor gesehen, aber die Stadt ist groß, es gibt viele Menschen, denen sie noch nie begegnet ist. Und der Junge ist klein und schmächtig, er ist leicht zu übersehen. Er ist zwei oder drei Jahre jünger als Jenny, aber seine Augen sind nicht kindlich. Einen Moment lang möchte sie zu ihm hinübergehen und sich neben ihm auf dem Ast niederlassen. Vielleicht würde es sich gut anfühlen.
Nicht mehr alleine zu sein.
Aber Jenny ist zu müde, um auf den Baum zu klettern. Und außerdem muss sie zurück nach Hause. Ihre Mutter wird gleich von der Arbeit kommen, und sie wird sich Sorgen machen, wenn die jüngste von ihren drei Töchtern bei dem aufkommenden Sturm nicht zu Hause ist.
Jenny wendet ihren Blick von dem Jungen und sieht hinauf zu dem dunklen Himmel. Ihre Gedanken fallen aus dem Zeitrahmen der umrandeten Realität. Sie sieht Winterwolken und Weihnachtslichter; Zimtsterne regnen auf sie herab, Schneeflocken verfangen sich in ihrem Haar, Eiskristalle wachsen auf dem Gras unter ihren Füßen. Die Enten verwandeln sich in Schneehasen und verschwinden in kleinen Iglus am Rande des Schlossparks. Der Teich versinkt unter einem Spiegel aus Eis und toten Fischen. Schneegewänder legen sich über die kahlen Äste, Eiszapfen umzingeln die frostigen Schatten der wintergrauen Nebelschwaden, und die Luft verändert den Klang ihrer lautlosen Sprache. Ja. Der Sommer ist verschwunden; zumindest in Jennys erfrorener Befindlichkeit.
Es ist so kalt auf einmal.
So furchtbar kalt.
»Dort oben«, flüstert Jenny in den windigen Sturm. »Dort oben fällt der Schnee.«
Sie bekommt keine Antwort.
Also schließt sie ihre Augen und weint.
Kurz darauf öffnet sie ihre Augen wieder und lächelt.
Dann dreht sie sich um und rennt davon.
Durch den Park, über die Straßen.
Die Stadt entlang.
Bis nach Hause.
Jenny Emmet. Vierzehn Jahre alt. Das blasseste Mädchen in der Stadt am Waldrand, das zierlichste Wesen auf den Mauern und Baumstämmen im Schlosspark.
Sie hat Krebs im Endstadium.
Sie wird sterben.
Heute.
An diesem Tag.
2
M artin Grey. Er steht auf einem Fensterbrett im vierundvierzigsten Stock eines Wolkenkratzers und genießt den Ausblick. Er hat keine Höhenangst, und auch der übermütige Wind jagt ihm keinen Schauer
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