Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)
über den Rücken. Es ist ein wundervoller Genuss, dort oben zu stehen, weit weg von den überlaufenen Straßen, den hupenden Autos und den bellenden Hunden.
Martin Grey lächelt. Es wäre der schönste Augenblick seines Lebens, wenn nicht auf einmal all diese Menschen gegen seine Bürotür hämmern und hysterisch herumschreien würden.
Was für ein Aufstand.
Nur weil er dort oben steht.
Dabei wollen sie doch alle hoch hinaus, die flatterhaften Menschen mit ihren dürren Armen. Aber vor der Weitsicht verschließen sie ihre Augen. Sie stehen vor einer Wand und suchen einen Vorwand, um auf die andere Seite zu kommen. Sie reden großspurig vom Wandel der Zeit und verwandeln ihre Gedanken noch vor dem ersten Richtungswechsel in eine Einbahnstraße.
Ja. Martin Grey findet die Menschen sehr seltsam. Sie stehlen sich gegenseitig die Zeit, nur um anschließend ihre Uhren miteinander zu vergleichen und die Zeiger bis auf den Sekundenschlag genau zu synchronisieren. Sie brauchen einen Zeitrahmen, sonst wissen sie nicht, wie groß die Leinwand ist, auf der sie ihre Bilder malen sollen. Und wenn sie nicht genau wissen, was sie sollen, dann wollen sie wissen, warum sie nicht wissen, was sie wollen, und wenn es ihnen keiner sagt, dann fragen sie, wofür sie denn bitte schön irgendetwas wollen sollen, wenn sie nicht einmal wissen sollen, warum sie nicht wissen, was sie wollen.
Martin Grey grinst.
Solche Sätze wandern ständig in seinem Kopf umher. Er könnte den ganzen Tag sinnlose Sinnbilder der Menschheit an seine Gehirnwände zeichnen, und sie anschließend anstandslos mit dem Abdeckstift der Zeit auslöschen. Er findet es bemerkenswert, dass Menschen ihr Leben lang sehnsüchtige Blicke auf diejenigen werfen, die auf den Ranglisten der messbaren Werte über ihnen stehen; aber auf ihre Konkurrenten, die sie im Wettlauf um Ruhm und Geld hinter sich gelassen haben, blicken sie selten zurück – von denen wird schließlich erwartet, dass sie ihrerseits nach oben schauen.
Was für ein grandioses Schauspiel.
Jeder Blickwinkel scheint spitz auf sich selbst zuzulaufen, oder möglichst weit von sich weg. Rechtwinklig dem Unrecht entgegen oder gleichschenklig der Ungleichheit des Verantwortungsbewusstseins eines jeden Gewissens hinterher.
Martin Grey lacht darüber.
Es war noch nie anders in der Stadt am Waldrand, und es wird auch niemals anders sein. Menschen tun merkwürdige Dinge zu merkwürdigen Zeiten, und ganz besonders merkwürdig ist dieser Moment. Da trommelt doch tatsächlich der Typ vom Büro rechts neben Martin Grey an die Wand und fleht ihn an, nicht zu springen. Dabei hat der Kerl ihn vorher noch nie angesehen. Er hat ihn niemals gegrüßt, er hat ihm nie zugenickt, und er hat sich nicht einmal bedankt, als Martin Grey ihm letztes Jahr einen Weihnachtsmann auf seinen Schreibtisch gestellt hatte, genau so, wie er es auch im Jahr davor getan hatte, und in dem Jahr davor und in jedem anderen der sieben Jahre auch, in denen Martin Grey nun schon bei Hustle&Winner, der größten Versicherungsgesellschaft in der Stadt am Waldrand, arbeitet.
Martin Grey sind solche kleinen Gesten wie die mit dem Schokoladenweihnachtsmann wichtig. Er will nicht in einem unpersönlichen Gebäudekomplex arbeiten, den ganzen Tag am Telefon hängen, und am Abend nach Hause gehen, ohne wenigstens ein paar seiner Kollegen beim Namen zu kennen. Und so hat Martin Grey also eines schönen Wintertages damit angefangen, in der Weihnachtszeit zweihundertvierzehn Weihnachtsmänner an den Arbeitsplätzen von Hustle&Winner zu verteilen. Und jedes Jahr sind es im Schnitt drei Kollegen mehr, die sich bei ihm dafür bedanken und das Einwickelpapier nach dem Verzehr im Mülleimer und nicht durch einen Wurf aus dem Fenster entsorgen.
Es ist ein ziemlich albernes Umfangen.
Aber umfassend ist es auch.
Und so ist Martin Grey mittlerweile mehr oder weniger dafür bekannt, dass er der merkwürdige Typ mit den Weihnachtsmännern und der höchsten Versicherungsaufschwatzrate ist. Alle mögen ihn. Denn er ist der Einzige, der jeden grüßt, der ihm im Flur begegnet, und er ist der Einzige, der immer gute Laune hat, auch dann noch, wenn keiner zurückgrüßt.
Aber nun steht Martin Grey auf seinem Fensterbrett im vierundvierzigsten Stock des Hochhauses, in dem Hustle&Winner dreieinhalb Büroetagen für sich beansprucht, und keiner weiß, warum.
Martin Grey hingegen weiß nicht, warum sich alle so aufregen. Was denken diese Menschen bloß? Wenn er vorhätte,
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