Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)
sie von Hoffnung und von Glück? Und sehen sie auch den Kranich, der dort oben am Himmel fliegt?«
Liana lächelt und greift sanft nach Felicitas’ Hand, um sie zu drücken.
»Ganz bestimmt«, flüstert sie dann. »Irgendwo in der Stadt am Waldrand liegen genau in diesem Moment zwei Menschen wie du und ich auf einer Wiese und betrachten den weißen Kranich.«
Liana Lake und ihre Tochter Felicitas. Sie werden noch eine ganze Weile auf der Zauberlichtung zwischen den drei Bäumen liegen. Erst wenn die Abenddämmerung hereinbricht, werden sie sich auf den Weg nach Hause machen.
Sie werden lächeln und sich an den Händen halten.
Sie werden nicht wissen, dass es der letzte Weg sein wird. Der letzte, den sie zusammen gehen. Denn schon am nächsten Tag wird Felicitas in den Fluss am Schlosspark fallen.
Und in der Strömung ertrinken.
Liana Lake. Es wird die schlimmste Zeit ihres Lebens werden, und dieser stechende Schmerz – er wird niemals wieder vergehen. Ihr Mann wird seine Geschäftsreise abbrechen und zu ihr nach Hause kommen, in die leere Wohnung, in diesen unendlich großen, leeren Raum. Sie werden beide stumm nebeneinander in dem verlassenen Kinderzimmer auf dem Bettrand zwischen Felicitas’ Kuscheltieren sitzen und die bemalten Zimmerwände anstarren, auf denen ihre Tochter jedes Jahr einen bunten Handabdruck verewigt hat.
Liana Lake. Sie wird von nun an jeden Tag am Ufer des Flusses stehen und auf die glitzernde Oberfläche blicken, die in einer einzigen unbeobachteten Minute ihre Tochter verschlungen hat. Liana Lake. Die regungslose Frau am rauschenden Flussufer.
Aber in fünf Monaten.
Wird sie einen Sohn bekommen.
Sein Name wird Felix lauten.
4
E in alter Mann sitzt auf seiner Veranda und blickt hinab auf die vorangehende Zeit. Er ist sich nicht ganz sicher, ob sie rennt oder stolpert, oder vielleicht gar nicht mehr von der Stelle kommt. Für einen winzigen Moment scheint es ihm, dass die Luft verharrt, dass sie dem allgemeinen Gefüge von Minuten und Stunden und dem Ablauf von Tagen und Wochen widerspricht – dass sie einfach nur existiert, um den Moment zu begrenzen.
Ja. Vielleicht ist das die Antwort.
Auf alle unerkannten Geschichten.
Ein Moment für sich gesehen.
Ohne Fragen über das Davor oder Danach. Keine Zweifel an dem großen Ganzen oder dem halben Wissen der geteilten Generationen. Einfach nur die Felder am Fluss, die befahrenen Straßen im Zentrum, die Berge in der Ferne, Schnee auf den Gipfeln, vorbeistreifende Wolken, Tiere im Zoo, Tiere in der Wildnis. Jeder dort, wo er hingehört. Jeder einsam, keiner allein, alle zusammen. Gegensätzlich, auf der gleichen Seite stehend, kniend vor dem Glauben, liegend unter dem Himmel. Unbegrenzt und doch dem Tod geweiht.
Vielleicht sind wir alle aus den Wolken gefallen.
Als ein lauter Knall uns aus den ewigen Träumen gerissen hat.
Der Mann seufzt. Seine Gedanken spielen mit Worten, sie verknüpfen Erinnerungen mit verschwommenen Bildern der Zukunft und verdrehen gegenwärtige Fragen, um Antworten auf die existenzielle Bedeutung der Bedeutungslosigkeit zu erhalten.
Was für ein Chaos.
In dieser verwegenen Ruhe.
Der Mann seufzt erneut. Nicht aus Enttäuschung oder als Zeichen der Verzweiflung. Er ist einfach nur ein sehr alter Mann, mit sehr alten Knochen und einem sehr alten Herzen. Seine Frau ist vor vielen Jahren gestorben, genau wie die meisten seiner Freunde und Bekannten; Kinder hat er auch keine, und so ist er ganz alleine auf der Welt. Manchmal ist er traurig deswegen. Aber nicht wirklich. Denn er mag die ruhigen Tage, die stillen Abende und die flüsternden Nächte. Er versinkt gerne in seinen Gedanken, verliert sich in den Abhandlungen der Mechanismen der Welt, der Überlagerungen einzelner Klänge der Verzweigung unendlicher Dimensionen und der Wahrhaftigkeit eines zweifelhaften Augenblicks, der nicht lügt, der nicht trügt, aber der zu unbegreiflich ist, um sich selbst zu bestätigen – obwohl er genau das tut, in dem Augenblick, in dem er geschieht. Nichts mehr kann die Zeit als bezeugen, was in ihrem Rahmen geschieht. Und es spielt keine Rolle, was im Nachhinein darüber erzählt und geschrieben wird. Jeder Bericht ist subjektiv; jeder Bericht spiegelt die Verfassung seines Verfassers wider. Und das Subjekt einer jeden Erzählung ist der Mensch, der sich mit Worten umhüllt, um seine Geschichte zu enthüllen.
Der alte Mann reibt sich über seine Stirn. Jede Bewegung nimmt er wahr, sein Körper wird immer
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