… da war'n es nur noch drei - Disconnected ; 1
wollt.“
Sie nickt enttäuscht, aber ich kann jetzt nicht den Hilfspädagogen oder Therapeuten in ihrem Leben spielen. Jonathan ist wichtiger. Im Fernsehen läuft inzwischen ein Beitrag über einen Bauern auf Fünen, der in seiner Scheune ein Traktormuseum eröffnet hat. Normalerweise kommt so ein leichter Beitrag immer am Ende, und ich wundere mich, dass man sich heute dafür entschieden hat, ihn vor den letzten Nachrichten über die Suchenach Jonathan zu bringen. Seit einer Woche hält sein Verschwinden das ganze Land in Atem und ist Thema in Zeitungsschlagzeilen, Radionachrichten, Fernsehsendungen und den Gesprächen der Leute.
In den Nachrichten schaltet man zum Wetter.
Ich stehe auf und gehe in die Küche, wo ich die Schranktüren zuknalle und mir Kaffee koche. Das Abendessen steht unangetastet auf dem Esstisch, weil ich zu starke Magenschmerzen habe, um etwas essen zu können. Wir trinken schweigend Kaffee, während ich die Zeitungen durchblättere. In der Berlingske und der Politiken wird Jonathan nicht erwähnt, und selbst in der B.T. , wo Lars arbeitet, hat man ihn auf Seite 12 verdrängt. Unter dem Bild, was seit einer Woche überall zu sehen ist, ist nur ein kurzer, zusammenfassender Text abgedruckt.
Noch immer nicht gefunden ...
Um acht sitzen wir wieder vor dem Fernseher, aber Jonathan wird auch in den Nachrichten im Ersten nicht erwähnt. Um viertel nach neun ignorieren sie ihn im Zweiten wieder. Selbst wenn es nicht direkt gesagt wird, ist Jonathan seit seinem Verschwinden nach und nach in die Gruppe der Vermissten gerutscht, die wahrscheinlich nicht wiedergefunden werden. Entweder weil sie es selbst nicht wollen, oder weil sie längst tot sind. Man vermutet, dass der Betreffende Selbstmord begangen hat oder im Suff ins Wasser gefallen ist, und die Leiche vielleicht morgen, vielleicht in einem Jahr, vielleicht aber auch nie gefunden wird. In jedem Fall ist die Nachricht nach einer Woche ohne neue, spannende Spur nicht mehr interessant. In einem Jahr werden die meisten Dänen vergessen haben, dass sie in den Medien einmal die Suche nach einem jungen Mann aus Kopenhagen mitverfolgt hatten, und zu diesem Zeitpunkt ist Jonathan wirklich verschwunden. Denn dann hat man ihn vergessen.
Es wird Herbst. Die Luft kühlt ab, und morgens ist es länger dunkel. Die Tage rotten sich zusammen und werden zu Wochen, und ich kann nichts dagegen tun. Genau wie ich nichts daran ändern kann, dass es eine Anwesenheitspflicht in der Schule gibt, Hausaufgaben, die gemacht und Bücher, die gelesen werden müssen. Pflichten. Mahlzeiten. Duschen. Dinge, die ich immer tue. Die Routinen drängen sich ohne Rücksicht darauf auf, dass Jonathan immer noch nicht gefunden worden ist, und plötzlich hat sich der Alltag wieder bei mir eingeschlichen. An einem Samstag in den Herbstferien fahre ich zum Basketballplatz. Alle üblichen Verdächtigen sind da: Tobias, Schrank, Schiebetür, Street-Sune und Kasper. Wir reden ein bisschen über Jonathan, aber davon abgesehen spielen wir nur, und es ist eine Erleichterung. Als ich am Sonntag wieder zum Platz fahre, spiele ich mit ein paar Typen zusammen, die mich nicht kennen, weshalb ich nur irgendwer bin, der einigermaßen Basket spielt und nicht Mateus, dessen Freund verschwunden ist. Als das Spiel beendet ist, fällt mir auf, dass ich eine ganze Stunde lang nicht an Jonathan gedacht habe. Das bereitet mir ein so schlechtes Gewissen, dass ich die halbe Nacht wach liege. Das schlechte Gewissen habe ich auch gegenüber Lars und Hannah. Ich habe nicht mit ihnen gesprochen, seit Jonathan verschwunden ist, und fühle mich wie ein riesiger Feigling. Eine Woche später reiße ich mich endlich zusammen und fahre an ihrer Wohnung in der Dag Hammerskjölds Allé vorbei. Ich steige von meinem Rad, doch vor dem Haustor zögere ich plötzlich. Die Blätter der Bäume vor der amerikanischen Botschaft haben sich braun gefärbt. Die Zeit und der Verkehr um mich herum laufen weiter, provozierend unbeeindruckt, als ob nichts passiert wäre, als hätten Lars und Hannah nicht ihr einziges Kind verloren. Ihre Trauer jagt mir eine solche Angst ein, dass ich wieder fahre, ohne geklingelt zu haben.
Am nächsten Tag sitze ich lange da und sehe in den Garten der Nachbarn hinab. Herr und Frau Iversen schlurfen in Winterjacken herum und entfernen die Sommerpflanzen aus dem Gewächshaus. Sie sind beide weit über achtzig. Ich mag sie gern, aber trotzdem erscheint es mir falsch und ungerecht, dass sie noch da sind,
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