Dabei und doch nicht mittendrin
vor Augen führt, dass ein Großteil der Angeworbenen (53 Prozent) in der ersten Generation nur einfache Arbeiter (in der Regel mit Grundschulabschluss) undweitere 16 Prozent Bauern waren, die mit geringen formalen Bildungskompetenzen und ohne jede Sprachkenntnis diesen Sprung ins kalte Wasser vollzogen. 13
Ein wenig dürfte der erwartete »Kulturschock« durch eine vorausgegangene Binnenmigration abgefedert worden sein 14 (auch deshalb fügt sich die türkische Migration gut in das oben skizzierte Sluzki-Modell ein). Denn differenziert man zwischen Wohnort vor der Ausreise und dem Geburtsort der türkischen Migranten, so wird deutlich, dass zwar rund 30 Prozent aus der recht gut entwickelten Marmararegion (um Istanbul herum) nach Deutschland kamen, aber weniger als die Hälfte (13 Prozent) auch dort geboren waren. Jedoch entstammen weit über 40 Prozent eher ländlichen Strukturen Zentral- und Ostanatoliens mit einem sehr geringen Entwicklungsniveau. 15
Deshalb sind sowohl die Ausreisemotivation als auch die Bereitschaft, sich auf die »neue Heimat« einzulassen, mit Blick auf die dominanten Herkunftsregionen und den früheren Beschäftigungssektor zu differenzieren: Während es für die Bauern wichtig war, in kurzer Zeit das Geld etwa für einen Traktor zur Bewirtschaftung des Landes anzusparen, war das vordringliche Motiv der Türken aus den städtischen Regionen, sich eine selbstständige Existenz in der Heimat und auch die Vorsorge für die Kinder aufzubauen, was eine deutlich längerfristig angelegte Migration bedeutete.
Welche Vorbereitungen gab es für die ersten Migranten? Berichtet wird, dass die Verbindungsstelle in Istanbul beispielsweise zwischen 15 bis 20 Minuten darauf verwendete, Arbeitern in jeweils Zehnergruppen ihre künftige Beschäftigung und ihre Arbeitsverträge zu erklären, so etwa den Unterschied zwischen Netto- und Bruttoverdiensten.
Kaum hilfreicher dürfte auch die 1963 von der türkischen Regierung herausgegebene 38-seitige Broschüre gewesen sein, die wie ein Verhaltensmanual das Leben in Deutschland erklären sollte. So heißt es zum Beispiel darin: »Die BundesrepublikDeutschland ist ein nationalistischer Staat. Die dort lebenden Deutschen sind, genau wie wir Türken, Nationalisten und Feinde des Kommunismus.« Was die Arbeitsmoral betrifft, so werden sie aufgefordert, »fleißig, wach und schnell zu sein«. Ferner wird die Mahnung ausgesprochen: »Haltet euch strikt an die Betriebsordnung. Kommt pünktlich und geht pünktlich. Lasst euch nie krankschreiben, außer wenn es gar nicht anders geht.«
Und mit Blick auf das Privatleben wird gewarnt, gewohnte Geschlechterbilder nicht zu übertragen. 16 Zwar würden deutsche Frauen das »Heldentum des Türken lieben«, aber das dürfe nicht als Ansporn zu weiteren beziehungsweise näheren Kontakten missverstanden werden (Eryilmaz, 1998).
Generell lässt sich aber nicht nur aus dem subjektiven wie objektiven Selbstverständnis des Aufenthaltes als ein vorübergehender, sondern auch aus harten Fakten ableiten, dass als Orientierung eine baldige Rückkehr dominierte:
1. In der ersten Zeit der Anwerbung war der Aufenthalt für zwei Jahre befristet; ein Nachzug von Familienmitgliedern war nicht vorgesehen. Nach etwa zwei Jahren ist diese Befristung aufgehoben worden: Denn zum einen hätte es sich als ökonomisch unsinnig erwiesen, eingearbeitete und langsam profitabel gewordene Arbeitskräfte zurückzuschicken und neue anzuwerben, zum anderen konnten die deutschen Verbindungsstellen in Ankara und Istanbul so viele gar nicht vermitteln wie gebraucht wurden, gleichwohl nicht jeder Bewerber angenommen, sondern etwa jeder Zehnte abgelehnt wurde.
2. So betrug beispielsweise das Sparvolumen bis Ende der 70er Jahre rund 45 Prozent des Einkommens. Ab den 80er Jahren zeigt sich eine allmähliche Angleichung des Konsumverhaltens an die Einheimischen: Die Sparquote betrug 1987 nur noch 16 Prozent des Einkommens; die Zahl der in Deutschlanderworbenen Immobilien stieg kontinuierlich, was eine eindeutige Bleibeabsicht dokumentiert. Andererseits ist gerade diese Form der wirtschaftlichen Aktivität auch ein Reflex auf zahlreiche frühe Erfahrungen der Diskriminierung auf dem freien Wohnungsmarkt.
Dennoch erleben wir im Alltag nicht selten die etwas paradox anmutende Situation, dass Türken von einer baldigen Rückkehr berichten, in ihrer Lebensorientierung aber (wirtschaftliche Investitionen, Bemühungen, Familienmitglieder und Verwandtschaft nach
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