Dabei und doch nicht mittendrin
kulturellen Überzeugungen oder der Bewältigung der eigenkulturellen Modernitätsdefizite konfrontiert werden und dabei an die Grenzen ihrer Fähigkeiten und Kompetenzen stoßen, dann wird diese Problemkonstellation als Stress wahrgenommen. Wissenschaftlich wird dies auch als »Akkulturationsstress« bezeichnet: Das Gefühl der Herausforderung, das Leben auch in neuen Zusammenhängen zu meistern, weicht dann einem Gefühl der Überforderung. Stress entsteht generell dann, wenn wir im Umgang mit Anforderungen in persönlich wichtigen Bereichen wie Familie, Beruf oder Sozialbeziehungen nicht über ausreichende Mittel zur Bewältigung verfügen. 19
Entwicklungspsychologisch lässt sich konstatieren, dass Migranten, aber auch ihre in Deutschland geborenen Kinder im Prozess ihrer Akkulturation, bei der allmählichen Aneignung von Schlüsselkompetenzen und Verhaltensstandards der Aufnahmekultur, stets in doppelte soziale Bezugsnetze involviertsind: Denn einerseits müssen sie das Verhältnis zur eigenen Ethnie oder zur Herkunftsethnie der Eltern, andererseits ihr Verhältnis zur Aufnahmegesellschaft und zu den Einheimischen, eigenaktiv gestalten. Dabei lassen sich vier idealtypische Formen unterscheiden: Integration, Assimilation, Separation und Marginalisierung. 20
Bei der
Integration
und
Assimilation
orientiert sich der Einzelne stärker an der aufnehmenden Gesellschaft, wobei eine Integrationsorientierung als bedeutsam erachtete Aspekte der eigenen Herkunft, wie etwa der Sprache, Religion und Bräuche noch beizubehalten bestrebt ist, Assimilation hingegen als ein Versuch gewertet wird, eigenkulturelle Hinweise auf die Zugehörigkeit zu einer anderen Ethnie unkenntlich zu machen und eine umfassende (kulturelle) Angleichung (Übernahme wesentlicher Eigenschaften, Alltagshandlungen und Überzeugungen) an die neue Bezugsgruppe zu erreichen.
Separation
ist durch eine deutliche Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft und eine gleichzeitige Hinwendung zur eigenen Ethnie oder zum ethnischen Hintergrund der Eltern gekennzeichnet.
Marginalisierung
bedeutet hingegen Abgrenzung sowohl von intra- als auch interethnischen Beziehungen; so will man etwa weder mit Türken noch mit Deutschen befreundet sein, lehnt beide Weltentwürfe für sich ab. Marginalisierung, also Rand-ständigkeit (räumlich: am Rand der Stadt lebend, aber auch sozial: ohne Kontakte zu Mitmenschen) kann jedoch auch eine Folge gesellschaftlicher Zurückweisung sein und nicht nur ein gewollter Zustand der Migranten.
Diese Optionen können bereichsspezifisch variieren. Sie sind nicht nur individuelle Präferenzen, sondern hängen auch wesentlich von den Erfahrungen mit Handlungsmöglichkeiten und -barrieren in der Aufnahmegesellschaft ab.
So kann die sprachliche und soziale Integration bewältigt, aber die Integration in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt ehermisslungen sein; oder umgekehrt ist durch Selbstständigkeit eine gute berufliche Integration erfolgt, während eine (gewünschte) Einbindung in multiethnische Vereine, Verbände, Freundschaften oder Partnerschaften weniger geglückt ist.
Migrationsprozesse verändern das »Aussehen« eines Landes neben dem rein visuellen Aspekt auf mehreren Ebenen, zum Beispiel der demographischen, indem sie (im Falle Deutschlands) zu einer Unterschichtung der Gesellschaft führen. Das bedeutet, dass der sozioökonomische Status zugewanderter Familien im Durchschnitt deutlich geringer ist als jener der Einheimischen, und Migrantenfamilien so gesehen über weniger Ressourcen verfügen. Unterschichtung bedeutet aber auch, dass die bisherige deutsche Unterschicht in ihrer Selbstwahrnehmung und ihrer gesellschaftlichen Position aufgewertet wird; denn jetzt gibt es eine Gruppe unterhalb der Ihren auf der gesellschaftlichen Leiter.
Zudem hinterlässt Migration Spuren auf einer mentalen Ebene: Durch die Präsenz des oder der Anderen werden nämlich Bewusstseinsprozesse ausgelöst, die Fragen der kulturellen Vielfalt und deren Wünschbarkeit oder Gefährdungspotenziale zu Tage treten lassen. Ebenso sehr wird plötzlich die eigene kulturelle oder nationale Identität zum Thema. Bedürfnisse nach Selbstvergewisserungen über das »typisch Deutsche« werden geweckt. Die Diskussionen um die deutsche Leitkultur sowie die etwas populistisch-reflexhafte Leugnung tatsächlichen multikulturellen Lebens in Deutschland, etwa bei der Äußerung Angela Merkels »Multikulti ist gescheitert«, sind ein beredtes Zeugnis davon.
Trotz
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