Daddy Langbein
richtig streichelt, und fauchen, wenn man es nicht tut. (Das ist kein sehr eleganter Vergleich. Ich meine es natürlich nicht wörtlich.)
Wir lesen das Tagebuch der Marie Baschkirtseff. Ist es nicht erstaunlich? Höre das folgende: „Gestern nacht wurde ich von einem Anfall von Verzweiflung ergriffen, der in Stöhnen Ausdruck fand und mich schließlich dazu trieb, die Eßzimmeruhr ins Meer zu werfen.“
Fast läßt es mich hoffen, daß ich kein Genie bin; sie müssen für die Umgegend sehr anstrengend sein - und auf die Möbel furchtbar destruktiv wirken.
Mein Gott! Wie es immer weiter gießt. Wir werden heute abend zur Andacht schwimmen müssen.
Immer Deine
Judy.
20. Januar.
Lieber Daddy-Langbein!
Hast Du je ein süßes Baby gehabt, das in seiner Kindheit aus der Wiege gestohlen wurde?
Vielleicht bin ich es! Wenn wir in einem Roman vorkämen, wäre das sicher die Auflösung.
Es ist wirklich ungeheuer sonderbar, nicht zu wissen, wer man ist — eigentlich aufregend und romantisch. Es gibt so viele Möglichkeiten. Vielleicht bin ich nicht amerikanisch. Viele sind es nicht. Vielleicht stamme ich geradeswegs von den alten Römern ab, oder vielleicht bin ich die Tochter eines Wiking, oder vielleicht bin ich die Tochter eines russischen Verbannten und gehöre von rechtswegen in ein sibirisches Gefängnis, oder vielleicht bin ich eine Zigeunerin — ich glaube, das könnte ich sein. Ich habe einen sehr wanderlustigen Geist, obwohl ich bisher noch nicht viel Gelegenheit hatte, ihn zu entwickeln.
Weißt Du von dem einen skandalösen Punkt in meinem Lebenslauf — als ich von der Anstalt fortlief, weil sie mich dafür bestraft hatten, daß ich Plätzchen gestohlen hatte? Es steht in den Büchern, — jeder Aufsichtsrat kann es lesen. Aber wirklich, Daddy, was konnte man anderes erwarten? Wenn man ein hungriges kleines neunjähriges Mädchen zum Messerputzen in die Speisekammer stellt, mit dem Plätzchentopf hart an ihrem Ellbogen, und sie dann allein läßt; und dann plötzlich wieder hereinplatzt, —- soll man dann nicht erwarten, sie mit Krumen bedeckt zu finden? Und wenn man sie dann an den Ellbogen zerrt und ohrfeigt und vom Tisch wegschickt, ehe der Pudding kommt, und allen Kindern erzählt, daß sie ein Dieb sei, würdest Du nicht erwarten, daß sie dann durchbrennt?
Ich rannte nur vier Meilen weit. Sie fingen mich ein und brachten mich zurück; und eine Woche lang wurde ich, wie ein ungezogener junger Hund, jeden Tag im Hof an einen Pfosten gebunden, während die anderen Kinder ihre Freizeit hatten.
O je! Da läutet die Glocke zur Andacht, und nach der Andacht habe ich eine Ausschußsitzung. Es tut mir leid, denn ich hatte die Absicht, Dir diesmal einen sehr unterhaltsamen Brief zu schreiben.
Auf Wiedersehen.
Cher Daddy
Pax tibi
Judy.
P. S. Eins ist mir ganz sicher: ein Chinese bin ich nicht.
4. Februar.
Lieber Daddy-Langbein!
Jimmie McBride bat mir eine Princeton-Fahne geschickt, die so groß ist wie das halbe Zimmer. Ich bin ihm sehr dankbar, daß er an mich dachte,
aber ich habe keine Ahnung, was ich damit anfangen soll. Sallie und Julia erlauben mir nicht, sie aufzuhängen. Unser Zimmer ist dieses Jahr in Rot möbliert; Du kannst Dir die Wirkung vorstellen, wenn ich Orange und Schwarz hinzufügen würde. Aber es ist so ein schöner, warmer, dicker Filz, daß ich ihn nicht umkommen lassen möchte. Wäre es sehr unanständig, wenn ich einen Schlafrock daraus machen ließe? Mein alter ist eingegangen, als er gewaschen wurde.
Ich habe in der letzten Zeit ganz versäumt zu erzählen, was ich lerne; aber, obwohl es aus meinen Briefen wohl nicht klar wird, ist meine ganze Zeit dem Studium gewidmet. Es ist eine sehr verwirrende Sache, gleichzeitig in fünf Wissenszweigen ausgebildet zu werden.
„Der Prüfstein für wahres Studium“, sagt der Chemieprofessor, „ist eine mühevolle Leidenschaft für die Einzelheit“.
„Geben Sie acht, daß Ihre Augen nicht an den Einzelheiten kleben bleiben“, sagt der Geschichtsprofessor, „nehmen Sie genügend Abstand, um eine Perspektive vom Ganzen zu erhalten.“
Du siehst, mit welcher Sorgfalt wir unsere Segel zwischen Chemie und Geschichte setzen müssen. Ich habe die historische Methode am liebsten. Wenn ich sage, daß Wilhelm der Eroberer 1492 herüberkam, und daß Columbus Amerika im Jahr 1100 oder 1066 oder wann es gewesen sein mag entdeckte, ist das eine bloße Einzelheit, die der Professor übersieht. Es gibt beim Antworten in Geschichte
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