Daddy Langbein
wenn er den Himmel meint; und was die verrückte Frau anbelangt, die wie eine Hyäne lacht und die Bettvorhänge anzündet und den Brautschleier zerreißt und beißt — das ist das reinste Melodrama, aber trotzdem liest und liest man weiter. Ich kann nicht begreifen, wie irgendein Mädchen solch ein Buch schreiben konnte, und noch dazu ein Mädchen, das auf einem Kirchhof aufwuchs. Es ist etwas an den Brontës, das mich fasziniert. Ihre Bücher, ihr Leben, ihr Geist. Wo haben sie ihn her? Als ich von den Mühsalen der kleinen Jane in der Wohlfahrtsschule las, wurde ich so böse, daß ich einen Spaziergang machen mußte. Ich wußte genau, was sie fühlte. Da ich Mrs. Lippett kannte, konnte ich mir Mr. Bröckle vorstellen.
Sei nicht entsetzt, Daddy. Ich behaupte nicht, daß das John-Grier-Heim wie das Lowood-Institut war. Wir hatten reichlich zu essen und anzuziehen und genug Wasser zum Waschen und eine Heizung im Keller. Aber es bestand doch eine tödliche Ähnlichkeit. Unser Leben war absolut monoton und ereignislos. Nichts Erfreuliches ereignete sich je, außer Eis am Sonntag, und sogar das war regelmäßig. In den ganzen achtzehn Jahren, die ich dort war, hatte ich nur ein Abenteuer: als die Holzscheune brannte. Wir mußten in der Nacht aufstehen und uns anziehen, für den Fall, daß das Feuer auf das Haus übergreifen würde. Aber es griff nicht über, und wir gingen wieder ins Bett.
Jeder hat Überraschungen gern; es ist ein ganz menschliches Begehren. Aber ich hatte nie eine, bis Mrs. Lippett mich ins Büro rief, um mir zu sagen, daß Mr. Smith mich ins College schicken wolle. Und dann brachte sie es mir so sanft bei, daß die Nachricht mich fast nicht bewegte.
Weißt Du, Daddy, ich glaube, die wichtigste Eigenschaft für einen Menschen ist Phantasie. Sie ermöglicht den Leuten, sich an die Stelle anderer zu versetzen. Sie macht sie gütig und mitfühlend und verstehend. Sie sollte bei Kindern gepflegt werden. Aber das John-Grier-Heim merzte sofort das leiseste Flackern aus, sobald es sich zeigte. Pflichtgefühl war die einzige Eigenschaft, die ermutigt wurde. Ich finde, Kinder sollten die Bedeutung des Wortes überhaupt nicht kennen; es ist widerlich und hassenswert. Sie sollten alles aus Liebe tun.
Warte, bis Du die Waisenanstalt siehst, der ich vorstehen werde! Das ist nachts vor dem Einschlafen mein Lieblingsspiel. Ich denke es mir bis zur kleinsten Einzelheit aus — die Mahlzeiten und Kleider, das Lernen und die Vergnügungen und Strafen; denn selbst meine vortrefflicben Waisen sind manchmal böse.
Aber jedenfalls werden sie glücklich sein. Ich glaube, daß jeder, gleichgültig wieviele Schwierigkeiten er als Erwachsener haben mag, eine glückliche Kindheit haben sollte, auf die er zurückblicken kann. Und wenn ich je eigene Kinder habe, gleichgültig wie unglücklich ich selbst bin, werde ich verhindern, daß sie Sorgen haben, bis sie groß sind.
(Da läutet’s zur Andacht — ich werde den Brief irgendwann einmal zu Ende bringen.)
Donnerstag.
Als ich heute nachmittag vom Labor heimkam, fand ich ein Eichhörnchen auf dem Teetisch, das die Mandeln aß. Das sind die Besucher, die wir nun bewirten, nachdem es warm geworden ist und die Fenster offen bleiben.
Samstag früh. Vielleicht glaubst Du, weil gestern Freitag war und heute keine Collegs, daß ich mit der Stevenson-Ausgabe, die ich mit meinem Preisgeld gekauft habe, einen angenehmen stillen Leseabend verbrachte?
Aber dann hast Du nie ein Mädchencollege besucht, Daddy, Guter. Sechs Freundinnen kamen herein, um Fudge zu machen, und eine ließ das Fudge — als es noch flüssig war — mitten auf unseren besten Teppich fallen. Wir werden die Bescherung nie saubermachen können.
Ich habe in letzter Zeit die Vorlesungen nicht erwähnt. Aber wir haben sie immer noch, Tag für Tag. Es ist aber eine Art Erholung, einmal von ihnen wegzukommen und das Leben im großen zu diskutieren — allerdings sind es etwas einseitige Diskussionen, die Du und ich haben, aber das ist Deine eigene Schuld. Wann immer Du zurück antwortest, wird es willkommen sein.
Ich habe diesen Brief mit Unterbrechungen seit drei Tagen geschrieben, und ich fürchte, inzwischen vous êtes bien gelangweilt!
Adieu, netter Herr Mann.
Judy.
Mr. Daddy-Langbein Smith!
Mein Herr!
Nachdem ich das Studium der Argumentation und die Wissenschaft der Unterteilung einer These beendet habe, habe ich beschlossen, die folgende Form des Briefschreibens anzunehmen. Sie enthält alle
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