Dämenkind 2 - Kind der Götter
hinabstieg, aus Mikels Blickfeld. Wulfskling schloss sich ihr an. Stoßartig entwich der angestaute Atem aus Mikels Brust, und er stellte fest, dass er zitterte. Er wünschte sich, bloß der Hälfte von allem, was er da soeben gesehen und gehört hatte, einen Sinn abgewinnen zu können. Die Prinzessin musste in wahrhaft schweren Nöten stecken, wenn sie über Kronprinz Cratyn solche Lügen erzählte. Welcher Drangsal mochte man sie aussetzen?
»Pssst …«
Mikel äugte den Dieb an, der neben ihm in der stockfinsteren Nische hockte. »Was denn?«
»Du musst die Eier klauen.«
Verdrossen langte Mikel zu und klaubte die zerbrechlichen, gefleckten Eier aus dem Nest. »Da. Bist du zufrieden?«
Mit breitem Grinsen nickte Dacendaran. »Jetzt hast du dem Gott der Diebe die Ehre erwiesen.«
»Wenn du's nur sagst«, gab Mikel zerstreut zur Antwort. Er schrieb es dem Ausmaß seiner Erschütterung zu, dass er sich die Mühe sparte, dem Burschen zu widersprechen. Für gewöhnlich stellte er bei derlei Äußerungen klar, dass er an keinen anderen Gott als den Allerhöchsten glaubte.
»Nun gehört deine Seele mir, Mikel«, sagte Dacendaran, als ob er eine ganz außerordentliche Genugtuung empfände.
»Meine Seele gehört allein dem Allerhöchsten«, erwiderte Mikel aus reiner Gewohnheit.
Heiter lächelte Dacendaran. »Nicht doch. Das flunkerst du in deinen Hals hinein.«
45
DIE MEDALONER FEIERTEN den Gründungsfesttag mit einer Begeisterung, die Adrina als reichlich unangebracht erachtete für Männer, die mitten im Krieg standen. Indessen musste sie einräumen, dass gegenwärtig keine größeren kriegerischen Betätigungen stattfanden, sodass es verständlich war, wenn sie die Gelegenheit zum Feiern nutzten. Auch die hythrischen Reiter nahmen – als veranstaltete man ein Fest zu Ehren der Götter – an der Feierlichkeit teil. Adrina vermutete, dass der medalonische Gründungstag ihnen wenig bedeutete, sie sich jedoch die Möglichkeit zum ausgiebigen Essen und Trinken nicht entgehen lassen mochten. Und schließlich hatten sie kaum irgendwelche ernsthaften Aufgaben zu bewältigen. Nur eine völlig sinnlose Feldschlacht war durchzustehen gewesen. Ansonsten lungerte Kronprinz Cratyn mit seinem riesigen Heer auf der anderen Seite der Grenze und blieb gänzlich tatenlos.
Zahlreiche Leute füllten die Halle des Kastells, denn Hochmeister Jenga, Medalons Oberster Reichshüter, hatte sie zum Festsaal erklärt, und viele seiner Untergebenen, deren Ehegattinnen und Liebchen im Tross mit ins Feld gezogen waren, hatten ihre Frauen zu der Festlichkeit mitgebracht. Jemand hatte eine größere Menge blauen Leinens ausfindig gemacht und den redlichen Versuch betrieben, damit die modrigen Mauern zu ver
schönern, aber der Stoff war zu wenig gewesen, und daher war ein Teil des Inneren unverziert geblieben. Infolgedessen sah der aufgehängte Wandschmuck unfertig und etwas trostlos aus.
Die einzigen Quellen der Wärme gaben die überall verteilten Fackeln und der große Kamin am anderen Ende der Halle ab, doch trug schon die körperliche Nähe so vieler Menschen erheblich dazu bei, dass man die Kühle der Luft nicht mehr spürte.
Auch etliche Court'esa waren zugegen, allerdings widerstrebte es Adrina, diesen niedrigen, ungebildeten Huren eine so ehrenhafte Berufsbezeichnung zuzubilligen, deren einzige Gemeinsamkeit mit echten Court'esa in der Bereitschaft bestand, sich Liebesgunsterweise durch klingende Münze entgelten zu lassen.
In einer Ecke spielte eine Gruppe von Musikanten auf, überwiegend einfache Kriegsleute, die ihre Anwesenheit beim Festessen der Heeresführung ausschließlich der Begabung verdankten, ein Instrument zu beherrschen. Ihr Spiel hörte sich nicht einmal schlecht an, wenn man berücksichtigte, dass sie an erster Stelle im Draufhauen und Totstechen unterwiesen worden waren und die Tonkunst in ihrem Leben nur zweitrangige Bedeutung hatte.
Die Hand an Adrinas Ellbogen, geleitete Damin Wulfskling sie durchs Gedränge zu Hochmeister Jenga, der nahe der Stiege stand, die hinauf zu Adrinas Kammer führte, und dort mit Tarjanian Tenragan sprach.
Voller insgeheimer Neugier musterte Adrina den Hauptmann. Sie hatte seine starke Selbstsicherheit und innere Ruhe niemals ins Wanken bringen können, und
selbst das Geständnis, dass er es gewesen war, durch dessen Hand ihr Bruder in der Feldschlacht der Tod ereilt hatte, hatte daran nicht gerüttelt. Dabei hatte Adrina sich durchaus Mühe gegeben. Der Hauptmann ließ sich
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