Dämenkind 2 - Kind der Götter
nicht unbedingt freundlich, so doch recht wohlwollend. Das lag daran, vermutete Mikel, dass sie in ihm keine Gefahr erblickten. Infolgedessen trug er sich mit großartigen, allerdings noch weitgehend nebelhaften Vorsätzen, sie eines Tages eines Besseren zu belehren, und jeden Tag betete er vor dem Einschlafen zum Allerhöchsten, ihm den Weg dahin zu zeigen.
Der Lagerbereich des Hüter-Heers erstreckte sich in ordentlichen Reihen gleichartiger Zelte über die Ebene; in der Mitte stand das alte Kastell, in dem sich bis auf weiteres die Befehlshaber der medalonischen Streitkräfte eingenistet hatten. Die Hüter nannten es »VerräterKastell«, eine Bezeichnung, die Mikel höchst absonderlich anmutete. Hier musste Mikel für Mahina etliche Tätigkeiten ausführen, und hier fanden Hochmeister Jenga, Hauptmann Tenragan, ein gleichfalls gefährlich aussehender Mann namens Garet Warner mit dem Barbaren-Unterhäuptling Almodavar sowie einem stets
aufgeregten Jüngling, den man Ghari rief, zu Beratungen zusammen, um für den Krieg Pläne zu schmieden. Bislang hatte Mikel nicht entdecken können, welche Bedeutung dieser Ghari bei der medalonischen Streitmacht eigentlich einnahm, jedoch zog man ihn häufig heran, obschon er offenkundig zu Fragen der Kriegskunst wenig zu sagen wusste, um wichtige Angelegenheiten zu erörtern. Anscheinend oblagen ihm allerlei sonstige Zuständigkeiten, die im Krieg ihren Sinn und Zweck erfüllten, aber unmittelbar nichts mit Kampf zu schaffen hatten.
Es verwunderte Mikel, wie wenig Zeit die Medaloner darauf verwendeten, eigentliche Schlachtpläne zu besprechen. Viel umfänglicher redeten sie über Nachschub, Vorräte an Geschossen, Pferdefutter und Brennstoffvorsorge für den Winter. Seine Mutmaßung lautete, dass sie zu dergleichen genötigt waren, weil sie nicht den Schutz des Allerhöchsten genossen. Im karischen Heerlager verlor man nur selten ein Wort über derlei weltliche Erfordernisse. Man durfte darauf bauen, dass der Allmächtige für alles Nötige sorgte.
Da Mikel eine angeborene Begabung für fremdländische Sprachen hatte, war keine allzu lange Frist verstrichen, bis er vieles von dem verstand, was in seinem Umfeld gesagt wurde. Und zu seinem Erstaunen hatte Mahina, sobald sie merkte, dass er einige Unterhaltungen zu deuten wusste, sein beiläufiges Lernen keineswegs zu vereiteln versucht, sondern vielmehr sich Zeit genommen, um ihn regelrecht im Medalonischen zu unterrichten, und ihn sogar vor Hauptmann Tenragan gelobt, welch schnelle Auffassungsgabe er habe.
Von allem, was Mikel im medalonischen Heerlager überrascht hatte oder anhaltend verwirrte, war das bei weitem Sonderbarste, die Wahnsinnige. Sie bewohnte Kammern im wiederhergestellten Obergeschoss des Verräter-Kastells und wurde schwer bewacht von Hüter-Kriegern sowie einem traurigen Mann mit Namen Meister Draco, der kaum jemals ein Wort sprach und meistens in den Räumen über der Haupthalle des Bauwerks blieb.
Meister Draco flößte Mikel Unbehagen ein, und nicht bloß wegen seiner augenfälligen Ähnlichkeit mit Hauptmann Tenragan. Dracos ganze Ausstrahlung deutete an, dass sich in seinem Innern Gefühle stauten, die Mikel, weil er zu jung war, nicht nachempfinden konnte. Die einzigen vorteilhaften Züge, die Mikel bei ihm beobachtete, waren seine Hingabe an die Wahnsinnige sowie die Tatsache, dass jedes Mal, wenn er und Hauptmann Tenragan sich in derselben Räumlichkeit aufhielten, zwischen ihnen stummer Hass in solchem Ausmaß aufflackerte, dass fast Funken in der Luft flimmerten. Naturgemäß wusste Mikel nicht den Grund, warum Hauptmann Tenragan Meister Draco so abgrundtief hasste, und er hatte große Bedenken, irgendwen nach der Ursache zu fragen, doch jedenfalls bewies es ihm, dass sich auch im medalonischen Lager längst nicht alles durch derartige Vollkommenheit auszeichnete, wie es auf den ersten Blick den Anschein hatte.
Nie verließ die Wahnsinnige ihre Unterkunft. Mikel hatte sie einmal gesehen, als er von Mahina mit einem Schriftstück zu ihr geschickt worden war, das sie unter
schreiben sollte. Die Wachen hatten ihm die Tür geöffnet, und empfangen worden war er von der großen, streng auftretenden Frau namens Affiana, die allem Anschein nach das Amt einer Betreuerin der Wahnsinnigen ausübte. Affiana hatte die Schriftrolle entgegengenommen und ihn unverzüglich zur Tür hinausgescheucht; aber zuvor hatte er die Wahnsinnige, in den Armen eine verschlissene Puppe, inmitten der Kammer auf dem
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