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Dämmerschlaf - Roman

Dämmerschlaf - Roman

Titel: Dämmerschlaf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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dass sie ihrer kaum bedurft e …
    Sie öffnete das Fenster, stand da und trank die Stille in sich hinein. Die Frühlingsnacht war erfüllt von unterschwelligem Geraschel und Gemurmel, das einen Teil des Schweigens ausmachte. Doch plötzlich drang ein lautes Geräusch an ihr Ohr – das Brummen eines Autos, das die Auffahrt heraufkam. In der Stille hörte sie es schon von Weitem, wahrscheinlich seit der Wagen ins Tor eingebogen war. Das Geräusch wirkte unnatürlich, unterbrach das tiefe nächtliche Stillschweigen der schemenhaften Bäume und des sternenübersäten Himmels, und sie fuhr erschrocken zurück. Sie war keine nervöse Frau; sie vermutete dahinter die Eskapade eines Dienstboten und war gereizt – sie würde morgen mit dem Chauffeur reden müssen. Trotzdem seltsam, denn der Wagen bog nicht zur Garage ab. Am Fenster stehend verfolgte sie, wie er näher kam, dann hörte sie ihn langsamer werden und stehen bleiben – irgendwo beim Wirtschaftshof, vermutete sie.
    Hatten vielleicht Lita und Nona noch einen ihrer verrückten Ausflüge unternommen, nachdem die Gäste fort waren? Gegen solchen Leichtsinn musste sie wirklich protestiere n … Sie war verärgert, nervös, verunsichert. Sie fand es unheimlich, dass dieses unsichtbare Auto so nah ans Haus fuhr und dort stehen blie b … Sie zögerte einen Augenblick, ging in ihr Schlafzimmer hinüber, öffnete die Tür zum kleinen Verbindungsraum dahinter und lauschte an der Schlafzimmertür ihres Mannes. Die Tür stand einen Spalt offen, drinnen war es ganz dunkel. Erst wollte sie nicht sprechen, weil sie fürchtete, ihn zu wecken, aber schließlich sagte sie doch leise: «Dexte r …?»
    Keine Antwort. Sie sprach seinen Namen noch einmal aus, nun ein wenig lauter, trat dann vorsichtig über die Schwelle und schaltete das Licht an. Das Zimmer war leer, das Bett unberührt. Manford war augenscheinlich nicht in seinem Zimmer gewesen, seit die Gäste fort waren. Also war er mit dem Wagen zurückgekomme n … Sie machte das Licht aus und ging in ihr Schlafzimmer. Auf dem Frisiertisch stand das kleine Telefon, die Verbindung zum Personalflügel, zu Maisie Bruss’ Büro und zu Nonas Zimmer. Zitternd blieb sie vor dem Apparat stehen. Sollte sie vielleicht Nona anrufen und frage n …? Aber was überhaupt fragen? Wenn die Mädchen spaßeshalber noch weg gewesen waren, würden sie es ihr bestimmt morgen früh sagen. Und wenn es nur Dexter allein war, dan n …
    Sie wandte sich vom Telefon ab und begann sich langsam auszuziehen. Kurz darauf hörte sie Schritte in der Halle, danach im Vorzimmer. Dann ging ihr Mann leise in seinem Zimmer umher, und sie vernahm unverkennbar, wie auch er sich auszo g … Sie holte tief Luft, als versuchte sie ihre Lungen von einem unbestimmten Druck zu befreie n … Es war Dexter – nun gut, ja, nur Dexte r … und er hatte keine Lust, den Wagen um diese Zeit in die Garage zu fahre n … Ganz natürlic h … Wie gut, dass sie Nona nicht angerufen hatte! Wenn sie nun damit Lita oder das Kind geweckt hätt e …
    Vielleicht sollte sie doch ihre Entspannungsübungen machen. Sie war plötzlich hellwach. Trotzdem war sie froh, dass sie Jim diesen beruhigenden Brief geschrieben hatte; sie war froh, weil alles stimmt e …
    26
    Als Nona ihrer Mutter mitteilte, sie wolle am nächsten Tag in die Stadt fahren, um Mrs Bruss und Maisie zu besuchen, antwortete Mrs Manford: «Das habe ich mir schon gedacht, Liebling», und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: «Meinst du, ich sollte auc h …?»
    «Nein, natürlich nicht. Das würde Maisie nur beunruhigen.» Nona wusste: Das war die Antwort, die ihre Mutter erwartete. Sie wusste, dass nichts ihre Mutter so sehr ängstigte und aus dem Gleichgewicht brachte wie der direkte Kontakt mit körperlichem oder seelischem Leid – vor allem mit körperlichem. Von einem bestimmten Blickwinkel aus betrachtet, war ihr ganzes Leben ein langer, pausenloser Kampf gegen das Vordringen des Leidens in jeglicher Form gewesen. In einem ersten Schritt ging es immer darum, es zu bannen, mit Geld in die Flucht zu schlagen, koste es, was es wolle, nur nicht das eigene Ich. Schecks, Ärzte, Krankenschwestern, Privatkrankenzimmer, Röntgen, Radium, immer das Teuerste und Neueste auf dem Gebiet der furchtbaren Heilkunst – das waren ihre ersten und stärksten Schutztruppen; auf sie folgten schwächere Schutzwälle wie Kuren, Luftveränderung, Ferien an der See, ein neues Gebiss, ein rosafarbener, seidener Bettüberwurf,

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