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Dämmerschlaf - Roman

Dämmerschlaf - Roman

Titel: Dämmerschlaf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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arme Punkt A! Jim zuliebe sollte sie eigentlich bei ihm vorbeischauen, wenn sich Zeit fand – es sei denn, Nona konnte das erledigen, in den Pausen, in denen sie Maisie nicht trösten musste. Es war so deprimierend und obendrein nutzlos, im Besucherzimmer eines Krankenhauses zu sitzen und alte Illustrierte durchzublättern, während im gefliesten, vernickelten Allerheiligsten diese schrecklichen Weißkittelrituale vollzogen wurden. Es würde Nona guttun, wenn sie eine Entschuldigung hatte, um sich davonzustehlen.
    Paulines Besorgungsliste war wie eine Springflut angewachsen, nachdem sie sich entschlossen hatte, in die Stadt zu fahren. Ondulieren, Maniküren, Anprobe – das Kleid für den Empfang des Kardinals. Wie sollte es ihr jemals gelingen, auch nur die Hälfte dieser Liste abzuarbeiten? Und natürlich musste sie im Krankenhaus einen riesigen Korb Trauben und Blumen abgebe n …
    Auf der Treppe vor dem Krankenhaus hielt Nona inne und blickte sich um. Die Operation war vorüber – alles war «gut verlaufen», wie es bei solchen Anlässen immer hieß. Maisie war unermesslich dankbar gewesen, dass sie gekommen war, und so verblüfft, als wäre ein Engel aus dem siebten Himmel herabgestiegen, um ihr beizustehen. Die beiden jungen Frauen hatten beisammengesessen und angestrengt versucht, sich zu unterhalten, bis die Schwester erschien und sagte: «Es ist alles in Ordnung, sie ist wieder in ihrem Bett.» Daraufhin war Maisie in befreiende Tränen ausgebrochen und auf Zehenspitzen weggeschlichen, um sich im abgedunkelten Zimmer ihrer Mutter in eine Ecke zu setzen und darauf zu warten, dass sie wieder zu Bewusstsein kam. Für Nona gab es nichts mehr zu tun, und sie trat mit jenem Gefühl der Erleichterung in die Aprilfrische hinaus, das die Gesunden empfinden, wenn sie nach einem Blick auf den Tod zurück ins Leben flüchten dürfen.
    Auf der Krankenhaustreppe lief ihr Arthur Wyant über den Weg. «Punkt A, mein Lieber! Was machst du denn hier?»
    «Ich will mich nach der armen Mrs Bruss erkundigen. Ich habe von Amalasuntha erfahre n …»
    «Das ist aber nett von dir. Maisie wird sich sehr freuen.» Sie berichtete, was der Arzt gesagt hatte, kümmerte sich darum, dass seine Karte in die richtigen Hände gelangte, und begleitete ihn wieder auf die Straße. Er sah besser aus als bei seiner Abreise in den Süden, sein Bein war nicht mehr so steif, und er führte seine große, sorgfältig gekleidete Gestalt mit einer strengen Munterkeit spazieren. Nur sein Gesicht schien schärfer gezeichnet und dunkler gerötet. «Fieber oder Cocktails?», fragte sie sich. Ein Glück, dass sie sich getroffen hatten, so musste sie nicht bis ans andere Ende der Stadt fahren, um ihn zu besuchen.
    «Das sieht dir ähnlich, Punkt A, dass du an die arme Maisie denks t …»
    Er hob spöttisch die Augenbrauen. «Ist das aus der Mode gekommen, dass man sich nach Kranken erkundigt? Du hältst diese Tradition doch auch aufrecht.»
    «Ach, ich habe mit Maisie gewartet, bis die Operation vorbei war. Irgendwer muss es ja tun.»
    «Genau. Und deine Mutter hat sich ferngehalten, aber die ganze Sache finanziert?»
    «Großartig. So macht sie es immer.»
    Er runzelte die Stirn, blieb unschlüssig stehen und tippte mit dem Stock seine lange Stiefelspitze an. «Ich möchte eigentlich gern mit deiner Mutter reden.»
    «Mit Mutter?» Nona hätte beinahe geantwortet: «Sie ist heute in der Stadt», aber dann dachte sie an Paulines übervolle Liste und unterdrückte die Regung. «Kann ich sie nicht vertreten? Ich wollte gerade vorschlagen, dass du mich zum Lunch entführst.»
    «Nein, Liebes, das geht nicht – du als Stellvertreterin. Aber zum Lunch entführe ich dich gern.»
    Die Wahl des Restaurants hätte leicht anstrengend werden können – denn sobald Wyant das gewohnte Gleis verließ, wurde er zu einem einzigen Bündel aus Manien, Vorurteilen und Hemmungen –, aber Nona fiel zum Glück ein neuer Club für junge, unverheiratete Frauen ein («The Singleton»), bei dem sie vor Kurzem Mitglied geworden war, und so schob sie den immer noch protestierenden Arthur in ein Taxi.
    Sie fanden eine ruhige Ecke in einem gemütlichen, wenig frequentierten Speisezimmer, und sie lehnte sich zurück, lauschte seinem sprunghaften Monolog und rauchte eine Zigarette nach der anderen, weil sie vor Nervosität nichts essen konnte.
    Die zehn Tage auf der Insel? Oh, natürlich herrlich, warm und sonnig, da habe er seine alten Gelenke schön rösten können. Furchtbar nett

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