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Dämmerschlaf - Roman

Dämmerschlaf - Roman

Titel: Dämmerschlaf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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unerwartete Angriff machte ihn sprachlos. Denn es war ein Angriff, unmissverständlich. Ein Gefühl überkam ihn, eine Mischung aus Stärke und Angst – Angst vor dem Unvorhersehbaren und Stärke, weil sie sich verraten hatte. Er erwiderte ebenso heftig: «Nein, das bist du nicht. Du bist völlig ander s …»
    «Oh», unterbrach sie ihn, «sag nicht, ich sei zu heilig und solches Zeug. Von Heiligkeit hab ich die Nase voll – das ist mein Problem. Gib einfach zu, dass du es gern unnatürlich verfettet hast. Hör mal, diese Frau hat Fesseln von einem halben Meter Umfang. Siehst du das nicht? Oder gefällt dir das wirklich? Ich dachte, du willst mit mir zusammen sei n … Ich dachte, deswegen wärst du hie r … Glaubst du, ich wäre hier herausgekommen, nur um mir Predigten über die frische Luft und das Familienleben anzuhören? Diese Heuchele i …!»
    Ihr kleines Gesicht blitzte ihn wütend an, rote Lippen öffneten sich über blank schimmernden Zähnen. «Sie muss eine Wurstmaschine haben, um sich in diesen Schlauch zu pressen, den sie heute Abend anhatte. Ein normales Mädchen bringt so etwas gar nicht ferti g … ‹Völlig anders?› Das will ich hoffen! Ich möchte mal sehen, ob sie von Klawhammer eine Rolle angeboten bekäme. Vielleicht wenn er Barnums Leben 60 verfilmen will und eine Dicke Frau brauch t … Ic h …»
    «Lita!»
    «Du bist so dumm ! … Du bist der dümmste Kerl auf Gottes Erdboden!»
    «Lit a …» Er legte seine Hände auf die ihren. Und wenn danach die ganze Welt zusammenbrac h …
    Pauline saß im oberen Salon, erfüllt von jenem Gefühl der Ruhe, das aus erledigten Pflichten und verdienten Belohnungen erwächst. Wie sollte es auch anders sein, am Ende eines Tages, der so reich war an moralischer Befriedigung? Sie ließ ihn noch einmal an sich vorüberziehen, während sie um Mitternacht im schlafenden Haus wachte, und sah, dass alles gut war in der kleinen Welt, die sie geschaffen hatte.
    Ja, alles war gut, von der Feuerwehrübung, die einem etwas schleppenden Dinner zum nötigen aufregenden Ende verholfen hatte, bis zu den Vorbereitungen für den Empfang des Kardinals, Amalasunthas geschickter Umschiffung des leidigen Themas Geburtenregelung und der Tatsache, dass Jim mit philosophischer Gelassenheit im Süden blieb, obwohl sein Vater unerwartet zurückgekehrt war. Der einzige Schatten am Horizont war Michelangelo – Dexter ärgerte sich bestimmt darüber. Doch sie würde sich von Michelangelo nicht die Ferien verdüstern lassen, wo alles andere in ihrem Leben so reibungslos und sonnig verlief.
    Sie erinnerte sich an ihr Vorhaben, Jim zu schreiben, und griff lächelnd nach dem Füllfederhalter.
    «Ich ahne, welch himmlisches Wetter bei Dir herrschen muss, wo wir schon hier einen so köstlichen Vorgeschmack auf den Frühling bekommen. Das Kind ist den ganzen Tag draußen in der Sonne; es hat fast ein Pfund zugenommen und ist beinahe so braun, als wäre Sommer. Lita sieht auch viel besser aus, obwohl sie mir nicht verziehen hat, dass ich meinte, auch sie habe hundert Gramm zugenommen. Aber das glaube ich nicht, denn sie und Nona und Dexter reiten, golfen oder kutschieren von morgens bis abends über Land wie eine Schar Kinder. Du kannst dir nicht vorstellen, wie vergnügt, hungrig und müde sie zum Tee heimkommen. Es war ein wunderbarer Einfall von Dexter, Lita und das Kind hierherzubringen, während Du Urlaub machst, und Du wirst mir beipflichten, dass es Wunder gewirkt hat, wenn Du sie wiedersiehst.
    Amalasuntha hat mir erzählt, Dein Vater sei schon zurück. Ich habe damit gerechnet, dass er außerhalb seiner eigenen vier Wände unruhig wird, aber sie sagt, er sehe sehr gut aus. Nona fährt nächste Woche in die Stadt und besucht ihn, dann wird sie berichten. Vorläufig freue ich mich, dass Du noch bleibst und Deine Ferien ordentlich genießt. Gönne Dir möglichst viel Ruhe und Sonne und überlasse Deine Lieblinge noch ein wenig länger Deiner Dich liebenden alten
    Mutter»
    So, das würde ihn sicherlich beruhigen. Sie hatte es schon beruhigt, den Brief zu schreiben, es hatte ihr das Gefühl gegeben, zu dem sie insgeheim immer neigte, dass nämlich etwas zutraf, sobald man es aussprach, und erst recht, sobald man es niederschrieb.
    Sie klebte den Brief zu, schob den Stuhl zurück und blickte auf die kleine Uhr auf ihrem Schreibtisch. Viertel vor zwei! Sie hatte ein Recht, müde zu sein und sogar ihre Entspannungsübungen abzukürzen. Die ländliche Ruhe war so tief und wohltuend,

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