Dämmerschlaf - Roman
den Stuhl zurück und stand auf. «Ich bestelle den Wagen für elf Uhr», sagte er unnötig streng.
Lita schöpfte einen Löffel Saft aus der goldenen Grapefruitschale. Sie schien ihn weder zu beachten noch zu hören. Manford legte seine Serviette hin und ging aus dem Zimmer.
Lita warf den Kopf zurück und träufelte sich die Flüssigkeit langsam zwischen die Lippen. Ihre goldgesäumten Lider flatterten ein wenig, als wäre der Fruchtsaft ein Kuss.
«Wann reist du ab?», fragte Nona und griff nach dem Feuerzeug.
«Weiß nicht. Nächste Woche? Es würde mich nicht wundern.»
«Zu einem speziellen Teil des Erdballs?»
Litas Kopf sank wieder nach vorn, und ihre sanften, kastanienbraunen Augen richteten sich auf die Schwägerin. «Ja, aber ich weiß nicht mehr, wie er heißt.»
Nona blickte sie schweigend an. Sie war einfach schön. Wie eine Vase? Nein – jetzt eher wie eine Lampe, sie schien von innen zu leuchten. Als hätten sich ihre roten Blutkörperchen in Millionen Zauberlichter verwandel t …
Lita wich Nonas Blick aus und schaute wieder auf ihren Teller. «Briefe. Wie langweilig! Warum in aller Welt rufen die Leute nicht einfach an?»
Sie erhielt nicht oft Briefe; ihre angeborene Unfähigkeit, sie zu beantworten, hatte den Eifer ihrer Briefpartner allmählich erlahmen lassen – aller Briefpartner mit Ausnahme ihres Mannes. Fast täglich sah Nona einen von Jims graublauen Umschlägen auf dem Tisch in der Halle. Diese Farbe war für sie zum Symbol für langmütige Hoffnung geworden.
Lita blätterte in unpersönlich aussehenden Rechnungen und Reklamebriefen. Darunter tauchte der vertraute graublaue Umschlag auf. Nona dachte: «Wenn er nur nicht imme r …», und ihre Augen wurden feucht.
Lita blickte nachdenklich auf die Briefmarke und legte den Umschlag ungeöffnet beiseite.
«Liest du den Brief nicht?»
Sie hob die Brauen. «Jims Brief? Ich habe ihn schon gelesen – gestern. Genau den gleichen.»
«Lita! Du bis t … du bist richtig gemein!»
Litas gelangweilter Mund rundete sich zu einem Lächeln. «Nicht zu dir, Liebling. Möchtest du, dass ich ihn lese?» Sie schob einen lackierten Fingernagel unter die Kuvertlasche.
«O nein, nein! Nicht – nicht so!» Nona zuckte zusammen. «Ich wünschte, sie würde Jim hassen, würde ihn umbringen wollen! Alles besser als das», wütete es innerlich in dem Mädchen. Sie stand auf und ging zur Tür.
«Nona, warte! Was ist los? Möchtest du wirklich wissen, was er schreibt?» Auch Lita stand auf, die Augen noch immer auf den geöffneten Brief geheftet. «Er – o h …» Sie drehte ihrer Schwägerin ein Gesicht zu, aus dem das innere Glühen verschwunden war.
«Was ist? Ist er krank? Was ist los?»
«Er kommt heim. Er will, dass ich übermorgen zurückfahre.» Mit starrem Blick stand sie vor ihr, die Augen auf etwas hinter Nona und für sie Unsichtbares gerichtet.
«Schreibt er, warum?»
«Er sagt nichts, nur das.»
«Wann hattest du ihn denn zurückerwartet?»
«Ich weiß nicht. Noch ewig nicht. Ich habe kein Gedächtnis für Daten. Aber ich dachte, es gefällt ihm dort unten. Und dein Vater hat gesagt, er hätte es geregel t …»
«Was geregelt?», unterbrach sie Nona.
Lita schien sich Nonas wieder bewusst zu werden und wandte ihr ein glattes, unnahbares Gesicht zu. «Ich weiß nicht. Das mit der Bank vermutlich.»
«Dass die ihn dort unten festhalten?»
«Dass er schön lang Urlaub machen kann. Ihr fandet doch, dass er es furchtbar nötig hat, nicht wahr?»
Nona stand regungslos da und starrte aus dem Fenster. Sie sah ihren Vater im Buick vorfahren. Der Regen hatte sich zu einem silbernen Nieseln abgeschwächt, durchsetzt von Abschnitten kurzen Sonnenscheins, und durchs offene Fenster hörte sie ihn rufen: «Es klart also doch auf. Am besten starten wir gleich.»
Summend ging Lita aus der Tür.
«Lita!», rief Nona, von dem plötzlichen Impuls getrieben, etwas – sie wusste nicht, was – zu verhindern, vor diesem Etwas zu warnen. Aber die Tür hatte sich schon geschlossen, und Lita war außer Hörweite.
Den ganzen Tag fielen immer wieder lästige Regenschauer. Lästig jedenfalls für Pauline und Nona. Immer wenn sie versuchten spazieren zu gehen, ergoss sich auf sie eine Sintflut, und kaum waren sie mit den tropfenden Hunden zum Haus zurückgeplatscht, rissen die Wolken auf und verspotteten sie mit strahlendem Sonnenschein. Doch da saßen sie schon wieder über ihrer Liste oder hatten sich in der Bibliothek zu einer Partie Mahjong 63
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