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Dämmerschlaf - Roman

Dämmerschlaf - Roman

Titel: Dämmerschlaf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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Lichtstreifen. Seltsam, zu dieser Stunde; ihr Vater musste noch wach sein. Wahrscheinlich war auch er gerade erst heimgekommen. Sie wollte eben daran vorbeigehen, als sich die Tür öffnete und Manford sie rief. «Na sowas, Nona! Du bist das! Ich dachte, du seist längst im Bett.»
    Eine Lampe mit grünem Schirm beleuchtete den großen Schreibtisch. Manfords Lehnstuhl war herangeschoben, neben einem leeren Glas lag eine halb gerauchte Zigarette, die Abendzeitung war über den Boden verstreut.
    «Warst du das, die ich habe heimkommen hören? Weißt du, wie spät es ist?»
    «Ja, leider! Ich habe die ganze Stadt nach Lita abgesucht.»
    «Lita?»
    «Ich habe stundenlang bei Tommy Ardwin auf sie gewartet. Das ist vielleicht eine Clique! Er sagte mir, sie werde dort Klawhammer vortanzen, diesem Hollywoodkerl, und ich wollte nicht, dass sie allein hingeh t …»
    Manfords Gesicht verdüsterte sich. Er griff nach einer neuen Zigarette und sagte ungehalten zu seiner Tochter: «Wieso, zum Donnerwetter, fällst du auf solche Lügenmärchen rein? Klawhamme r …!»
    Nona stand ihm gegenüber; ihre Blicke trafen sich, und er wandte sich mit einem Achselzucken ab, um nach einem Zündholz zu greifen.
    «Ich habe es geglaubt, weil mir die Dienstboten kurz nach ihrem Verschwinden gesagt haben, Lita sei weggegangen, und da sie berichteten, du seist mit ihr gegangen, nahm ich an, du brächtest sie zu Ardwin; du wusstest ja nicht, dass ich sie dorthin begleiten wollte.»
    «Ach so.» Er zündete sich die Zigarette an und qualmte ein paar Sekunden nachdenklich vor sich hin. «Du hast ganz recht, man muss sich um sie kümmern», begann er wieder, in nun verändertem Ton. «Irgendwer muss diese Arbeit übernehmen, da ihr Mann offenbar nichts damit zu tun haben will.»
    «Vater! Du weißt sehr gut, wenn Jim diese Arbeit übernehmen würde – jeden Abend hinter Lita herrennen, von einem Club zum andern –, würde er die andere, die alle drei am Leben erhält, verlieren. Niemand kann beides leisten.»
    «He, du Giftspritze! Ich habe doch gar nichts gegen deinen Bruder!»
    «Das will ich hoffen.» Sie lehnte sich gegen den Tisch, den Blick weiter auf ihn gerichtet. «Und als Ardwin mir von diesem Klawhammer-Film berichtet e … Hat Lita dir nichts davon erzählt?»
    Er schien zu überlegen. «Sie sagte, Ardwin gehe ihr mit irgendetwas auf die Nerven, deshalb habe ich sie heimgebracht, als ich merkte, dass Jim schon weg war.»
    «Ach, du hast sie heimgebracht?»
    Manford ließ sich wieder in seinem Sessel nieder und nahm das Erstaunen in ihrer Stimme gleichgültig hin. «Ja, natürlich. Denkst du wirklich, ich würde zulassen, dass sie sich zum Affen macht? Traurig, dass du glaubst, das wäre meine Art, mich um sie zu kümmern.»
    Nona saß auf der Armlehne seines Stuhls und umarmte ihn glücklich. «Kleines Dummerchen», seufzte sie, aber die Bezeichnung galt nicht ihrem Vater.
    Sie goss sich ein Glas Kirschlikör ein, hauchte ihm einen Kuss auf das dünner werdende Haar und lief in ihr Zimmer hinauf, eine Jazzmelodie von Miss Jossie Keiler vor sich hin summend. Vielleicht war die Welt doch nicht ganz so schlecht.
    8
    Am Morgen nach einer Einladung im eigenen Haus genehmigte sich Pauline Manford immer eine extra halbe Stunde Schlaf; doch diesmal nutzte sie sie, um einfach wach im Bett zu liegen und müde die Aufgaben des bevorstehenden Tages durchzugehen.
    Ernüchterung war auf den glanzvollen Abend gefolgt. Freilich hielt der Glanz eines Balls nie lange an; allzu schnell wurde er zu einer Angelegenheit der häuslichen Leichenbestatter: der Putzfrauen, Dienstmädchen und Elektriker. Doch in diesem Fall war das Vergnügen noch früher schal geworden. Als sich zum Mitternachtsimbiss die Türen vor den blumengeschmückten Tischen öffneten, war außer der Gastgeberin kein Familienmitglied mehr anwesend, um die Gäste zu ihren Plätzen zu geleiten. Ehemann, Tochter, Sohn und Schwiegertochter – alle hatten sie verlassen. Pauline musste während dieser frostigen Morgenwache ihre ganze Selbstbeherrschung aufbieten, um die Erinnerung daran zu verscheuchen. Natürlich sollte sich niemand zu etwas gezwungen fühlen – sie war durchaus für persönliche Freiheit, für Selbstverwirklichung oder wie das heutzutage hieß –, aber dennoch, ein Ball war ein Ball, und Gastgeber waren Gastgeber. Das war wirklich zu schlimm von Dexter, und von Jim auch. Auf Lita konnte man natürlich nicht zählen, das gehörte zu ihrem Gehabe, das die Leute so

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