Dämmerschlaf - Roman
faszinierend fanden. Aber Jim – dass Jim und Nona sie im Stich gelassen hatten! In welch lächerliche Lage war sie dadurch gerate n … Aber nein, daran durfte sie jetzt nicht denken, sonst kamen wieder diese hässlichen Augenfältchen hervorgekrochen. Die Masseuse hatte sie gewarn t … Herr im Himmel! Um wie viel Uhr war denn die Masseuse dran? Sie streckte die Hand aus, schaltete das Licht am Bett an (denn die Fenster waren noch immer verdunkelt) und griff nach dem von Maisie Bruss als «Nachtliste» bezeichneten aufrecht stehenden Porzellantäfelchen, auf das die Sekretärin zum Zweck des nächtlichen Studiums die wichtigsten Termine des kommenden Tages zu schreiben pflegte.
Heute waren es so viele, dass selbst Miss Bruss’ winzige Handschrift sie kaum unterzubringen vermocht hatte. Zuvörderst natürlich der arme Punkt A, von gestern auf heute verschoben; dann kurz vor dem Lunch eine mysteriöse Verabredung mit Amalasuntha, etwas Dringendes, hatte sie angedeutet. Ausgerechnet heute! Amalasuntha war manchmal so taktlos. Und dann diese Mahatma-Geschichte. Da Dexter unerbittlich blieb, hatte seine Frau beschlossen, sich an die Lindons zu wenden. Das würde zweifellos peinlich werden, und sie hasste doch Peinlichkeiten. Jegliche Form von Unsauberkeit, sei sie moralischer oder materieller Art, war ihr unangenehm, aber es musste etwas unternommen werden, und zwar sofort. Sie wusste nicht recht, warum sie so besorgt war, so fest entschlossen, dass die Sache keine Folgen haben durfte; falls allerdings tatsächlich etwas schiefgehen sollte, würden all ihre Pläne über den Haufen geworfen, die Ruhekur, die neuen Gymnastikübungen, die Aussicht auf längere Jugend, Tatkraft und Schlankheit, und außerdem wäre sie gezwungen, sich einen neuen Messias zu suchen, der ihr bescheinigte, dass sie eine Begabung fürs Übersinnliche hatte.
Der dringendste Punkt auf der Liste war indes ihre nachmittägliche Ansprache vor der Nationalen Muttertagsgesellschaft – oder nein, war es nicht die Liga zur Geburtenregelung? Unsinn! Dort hielt sie nächste Woche bei dem Bankett eine Rede – eine ganz große Sache, im «St. Regis», vor einer internationalen Gruppe von Geburtenregelungsanhängern. Sie mochte sich wach fühlen, aber anscheinend war sie doch noch schlaftrunken, wenn sie ihre Verpflichtungen derart durcheinanderbrachte! Sie löschte das Licht und sank hoffnungsvoll auf das Kissen zurück – vielleicht kam jetzt tatsächlich der Schlaf. Ihre Nachttischlampe schien allerdings einen Doppelschalter zu haben, denn sobald sie sie im Zimmer ausknipste, ging sie in ihrem Kopf an.
Nun gut, dann würde sie eben versuchen, Teile ihrer Muttertagsrede zu memorieren. Sie sprach selten in der Öffentlichkeit, doch wenn sie es tat, nahm sie die Sache ernst und versuchte gleichermaßen gewinnend wie eindrucksvoll aufzutreten. Sie hatte das Typoskript sorgfältig mit Maisie durchgesprochen, und es war bestimmt alles richtig, aber sie lernte die wirkungsvolleren Stellen gern auswendig. Es brachte sie dem Publikum näher, wenn sie sich vorbeugte, vertraulich sprach und nicht alle paar Sekunden in den Text schauen musste.
«Hat es jemals Herde oder Herzen – Mutterherzen – gegeben, die nicht groß genug waren für all die Kindlein, die Gott ihnen zugedacht hat? Natürlich sind Mütter an manchen Tagen so erschöpft, dass sie nur noch von dem Wunsch beseelt sind, es möge im Kinderzimmer nichts zu tun geben und sie könnten einfach mit gefalteten Händen still dasitzen. Aber für eine Mutter gibt es nur dann im Kinderzimmer nichts zu tun, wenn dort ein kleiner Sarg steht. Dann ist es dort nur allzu ruhi g … wie einige von uns hier erlebt habe n …» (Pause, Schluchzer aus dem Publikum.) «Natürlich verlangen wir nicht, dass moderne Mütter bis zur völligen Erschöpfung arbeiten, keineswegs! Von völlig erschöpften Müttern haben die Babys nichts. Und das Wichtigste ist doch die Frage nach den Bedürfnissen der Babys, nicht wahr?» (Pause, Lächeln im Publikum.)
Womit in aller Welt wollte ihr Amalasuntha wohl auf die Nerven fallen? Mit der Bitte um mehr Geld natürlich – aber sie konnte wirklich nicht sämtliche Schulden dieses grässlichen Michelangelo bezahlen. Wenn Lita sich weiterhin so extravagant kleidete und ständig ihren Schmuck neu fassen ließ, gab es womöglich auch im engeren Familienkreis bald Schulden zu begleichen. Heutzutage kostete es fast genauso viel, Steine neu fassen zu lassen, wie sie neu zu kaufen, und
Weitere Kostenlose Bücher