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Dämmerschlaf - Roman

Dämmerschlaf - Roman

Titel: Dämmerschlaf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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die Smaragd e …
    Um diese Morgenstunde sah immer alles aschgrau aus; heute jedoch wurde ihr Optimismus fast so sehr auf die Probe gestellt wie damals, als sie gleichzeitig Proust lesen, einen neuen Tanz erlernen, östliche Weisheitslehren studieren und sich entscheiden musste, ob sie sich einen echten Bubikopf schneiden lassen oder sich nur entsprechend frisieren sollte. Sie hatte all diese Zerreißproben mit Bravour bestanden, aber was, wenn noch Schlimmeres auf sie wartete?
    Amalasuntha kam in einem ziemlich unvorteilhaft umgearbeiteten Kleid von Mrs Manford und machte einen betont ärmlichen, demütigen Eindruck – was immer ein schlechtes Zeichen war. Natürlich ging es um Michelangelos Schulden. Pferderennen, Baccara und eine Fra u … eine russische Prinzessin, meine Güte, eine wirklich echte! Ob Pauline ihr Bild im «Prattler» 37 sehen wolle? Sie und Michelangelo seien im Badeanzug zusammen fotografiert worden, am Lido.
    Nein, Pauline wollte nicht. Sie wandte sich von dem dargebotenen Bildnis mit einem Widerwillen ab, der die Marchesa offensichtlich erstaunte. Deren Empfindlichkeiten waren ganz anders beschaffen, und die ihrer Mitmenschen konnte sie immer nur häppchenweise erfassen, eins nach dem andern, wie eine Lektion in Gedächtnistraining.
    «Nun ja, mein Junge macht keine halben Sachen», erklärte die Marchesa, immer noch der Meinung, hier liege ein Grund zur Prahlerei vor.
    Pauline lehnte sich müde zurück. «Es tut mir wirklich sehr leid für dich, Amalasuntha, aber Michelangelo ist kein Kind mehr, und wenn er nicht begreift, dass ein mittelloser Mann, wenn er Geld ausgeben will, dieses zuerst verdienen mus s …»
    «Aber das begreift er doch, Liebste! Venturino und ich haben es ihm eingetrichtert. Und letztes Jahr ließ er nichts unversucht, um diese einäugige Miss Oxbaum aus Oregon zu heiraten, wirklich!»
    «Ich sagte ‹verdienen›!», warf Pauline ein. «Eine Geldheirat betrachten wir hier nicht als Geldverdienen.»
    «Oh, um Gottes willen – nicht? Auch nicht manchmal?», flüsterte die Marchesa.
    «Mit Verdienen meine ich, in ein Büro zu gehen ode r …»
    «Ah, ganz recht! Genau das habe ich gestern Abend zu Dexter gesagt. Genau das wünschen wir uns am allermeisten, Venturino und ich, dass Dexter Michelangelo in seine Kanzlei aufnimmt. Das würde alle Probleme lösen. Wenn Michelangelo erst einmal dort sitzt, wird er seine Sache bestimmt gut machen. Niemand ist so gescheit wie er, nu r – in Rom sind junge Männer mehr gefährdet, sie sind größeren Versuchungen ausgesetz t …»
    Pauline kräuselte die Lippen. «Das kann ich mir vorstellen.» Da Versuchungen ein Privileg der Großstädte waren, fand sie Amalasunthas Andeutung, in einem elenden Kaff wie Rom gebe es davon mehr als in New York, ziemlich unverschämt. Und das, obwohl sie bei anderer Gemütsverfassung die Erste gewesen wäre, die die italienische Hauptstadt als Sündenpfuhl und das mustergültige New York als Inbegriff einer makellosen amerikanischen Stadt bezeichnet hätte. All diese Widersprüche, die sie gemeinhin leicht schulterte, bereiteten ihr heute Kopfschmerzen, und sie fuhr nervös fort: «Michelangelo in die Kanzlei aufnehmen! Was hat er denn für Voraussetzungen, was für eine Ausbildung? Hat er jemals Jura studiert?»
    «Nein, ich glaube nicht, meine Liebe, aber er würde es tun, das kann ich versprechen», erklärte die Marchesa, wobei es klang wie: «Im Notfall würde er auch Straßenkehrer werden.»
    Pauline lächelte schwach. «Ich glaube, du verstehst nicht. Die Rechtswissenschaft ist eine Profession.» Das stammte von Dexter. «Dazu ist eine jahrelange Ausbildung und Vorbereitung nötig. Michelangelo müsste in Harvard oder Columbia promovieren. Aber vielleich t …» Ein Blick auf die Armbanduhr sagte ihr, dass der nächste Termin unmittelbar bevorstand. «Vielleicht könnte Dexter ihm eine andere Tätigkeit vorschlagen. Ich weiß natürlich nich t … Ich kann nichts verspreche n … Aber in der Zwischenzei t …» Sie ging zu ihrem Schreibtisch, und ein Scheck wechselte den Besitzer, zu klein, um Michelangelos Mangel spürbar abzuhelfen, aber doch so groß, dass Amalasuntha murmelte: «Wie du mich verwöhnst, meine Liebe! Gut, dem Jungen zuliebe nehme ich ihn einfach an. Und was den Empfang für den Kardinal anbelangt – ein Telegramm an Venturino wird das sicherlich regeln. Wäre deine Maisie so nett, es abzuschicken und meinen Namen darunterzusetzen?»
    Es war schon kurz nach drei, als

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