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Dämmerschlaf - Roman

Dämmerschlaf - Roman

Titel: Dämmerschlaf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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Fistelstimme soeben, als Nona das im obersten Stockwerk gelegene Atelier betrat, wo er seine «Eingeweihten» um sich scharte. Diese Auserwählten hatten sich in Ermangelung von Stühlen auf die Kissen und Matratzen verteilt, die auf dem schwarz-weißen, täuschend marmorierten Boden verstreut waren. Aus großen Lampen mit schwarzen Schirmen fiel Licht auf nackte Schultern, pomadisierte oder zerzauste Haare und eine freizügige Darbietung fleischfarbener Beine und mit Sandalen bekleideter Füße. Ardwin präsentierte sich gerade einer Verehrerin und hielt eine tropfende Stumpenkerze vor ein Gemälde, das ein offenes Fenster mit Blick auf geometrische Ziegelwände, Feuerleitern und Hinterhöfe zeigte. «Lug und Trug? Ja, natürlich. Das echte Fenster habe ich zumauern lassen. Es ging auf dieses dämliche ‹Nachtstück› Brooklyn Bridge und East River hinaus. Jeder, der hierherkam, sagte: ‹Ein Nocturne von Whistler!› 35 Es hing mir zum Hals raus. Außerdem war es wirklich da , und ich hasse Dinge, die wirklich da sind, wo man sie vermutet. Sie sind ebenso langweilig wie ehrliche Menschen. Alles in der Kunst sollte künstlich sein. Alles im Leben sollte Kunst sein. Ergo: Alles im Leben sollte künstlich sein, der Teint, die Zähne, das Haar, die Fraue n … besonders die Frauen. Oh, Miss Manford, Sie sind es! Kommen Sie doch herein. Haben Sie Lita unterwegs verloren?»
    «Ist sie nicht hier?»
    «Ist sie etwa hier?» Er schwenkte herum zu seinen Gästen. Wenn er nicht tanzte, sah er mit seinem kleinen Schlangenkopf und den überbreiten Schultern aus wie eine Kreuzung zwischen einem japanischen Kellner und einer ganzseitigen Anzeige für seidene Unterwäsche. «Ist Lita hier? Haltet ihr sie irgendwo zwischen euch versteckt? Wenn ja, raus mit ihr! Jossie Keiler, du bist nicht etwa Mrs James Wyant, als Dryade 36 verkleidet?» Von allen Seiten ertönte schallendes Gelächter, als sich die Mulatten-Pianistin Miss Jossie Keiler hochrappelte und ihre plumpen Füße sowie eine Garnitur Wurstarme und Polsterbeine zu einer provokativen Pose anordnete. «Ich wusste ja, dass ich entdeckt werde», lispelte sie.
    Ein klein gewachsener Mann mit einem trügerisch blonden Schopf, dicken Lippen unter einem blonden Stummelschnurrbart und hinter einer Schildpattbrille Augen wie Nadeln stand vor dem Kamin und wölbte den Gästen eine Hochglanzhemdbrust und eine Solitärperle entgegen. «Tanzt die Dame nicht?», fragte er mit einer Stimme wie geschmolzene Butter, die ihm von den Lippen zu tröpfeln und ab und zu hinter einer dicht beringten Hand aufgeleckt zu werden schien.
    «Miss Manford? Aber sicher! Kommen Sie, Nona, legen Sie ab, dann zeigen wir unserem Gast Mr Klawhammer mal, dass Lita nicht unersetz…»
    «Hilfe! Wartet, bis ich im Sattel sitze!», kreischte Miss Keiler, und die winzigen Hände am Ende ihrer Armkeulen schossen wie bläuliche Mäuse Richtung Klaviatur.
    Nona setzte sich auf den Rand eines Refektoriumstischs. «Danke. Ich bewerbe mich nicht für die Herodias. Meine Schwägerin taucht sicher gleich auf.»
    Nicht einmal ein perfekt geführtes Hauswesen wie das von Mrs Manford bot um vier Uhr morgens nach einem Ball einen besonders verlockenden Anblick. Die letzten Automobile waren abgefahren, die letzten Überzieher und Abendmäntel aus der Halle und den Ankleideräumen verschwunden, und nur noch eine einzige Deckenlampe beleuchtete die dunklen Wandteppiche und das wuchtige Treppengeländer. Die Tische in der Halle waren übersät mit leeren Cocktailgläsern und geplünderten Zigarrenkisten, auf dem Treppenläufer lagen verstreut Tüllfetzen und zertrampelte Orchideen, und das Buschwerk aus Treibhausflieder und japanischen Kirschen vor dem Lift ließ in der heißen Luft traurig die Zweigspitzen hängen. Nona sperrte mit ihrem Hausschlüssel auf und überflog angewidert den Schauplatz. Wozu das alles, und was blieb, wenn es vorbei war? Nicht mehr als das Großreinemachen durch Maisie und die Dienstboten und das Schreiben einer neuen Liste für das nächste Ma l … Sie musste an milde Frühlingsnächte in Cedarledge denken, damals, als sie noch ein kleines Mädchen war und sie und Jim immer auf Strümpfen die Treppe hinunterschlichen, zum See gingen, ein Paddelboot losmachten und auf einem silbernen Band zwischen den mit knospendem Hartriegel gesäumten Inselchen dahintrieben. Sie eilte weiter, an den geschändeten Zweigen vorbei.
    Oben im Haus war alles dunkel, nur unter der Bibliothekstür sah man einen

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