Dämmerschlaf - Roman
Pauline die Treppe vor der Haustür der Lindons nach unten stieg und ihren Chauffeur anwies: «Zu Mr Wyant.» Dabei waren ihre vom Vormittag verschobenen eurythmischen Übungen noch irgendwie unterzubringen, und um halb fünf musste sie fertig gebadet, onduliert und gewandet in ihrem Ballsaal die Muttertagsversammlung mit anschließendem monströsem Teeempfang leiten.
Nein, die nervöse Unruhe, die durch diese atemberaubende New Yorker Lebensweise hervorgerufen wurde, ließ sich auch mit mentaler Tiefenatmung und allen anderen Gelassenheitsübungen nicht wirksam bekämpfen. Heute war es ihr wirklich zu viel. Sie lehnte sich zurück und schloss seufzend die Lider. Durch eine Ampel, die das Auto gerade jetzt, wo jeder Augenblick so kostbar war, zum Stillstand zwang, wurde sie jählings wieder in die Gegenwart versetzt. Weil alle Welt es so eilig hatte, irgendwo hinzukommen, kam am Ende niemand mehr irgendwo hin. Sie warf einen Blick quer durch die drei Autos, die in einer Reihe neben dem ihren standen, und sah in jedem – als schaute sie in Spiegel – eine teuer gekleidete Frau wie sie selbst, die sich in derselben Haltung unterdrückter Ungeduld und mit demselben nervösen Stirnrunzeln nach vorn beugte.
Ach, wenn sie nur nicht immer vergessen würde, sich zu entspannen! Aber wie sollte man sich entspannen, wenn so wie heute alles schiefging? Der Besuch bei Fanny Lindon war ein völliger Fehlschlag gewesen. Pauline hatte ihren Einfluss auf die Lindons offensichtlich überschätzt, und diese Entdeckung war an sich schon ziemlich demütigend. Sich anhören zu müssen, die Mahatma-Geschichte sei eine «Familienangelegenheit» – und damit implizit mitgeteilt zu bekommen, dass sie nicht mehr zur Familie gehörte! Im Geiste hatte Pauline nie ganz aufgehört, sich als eine Wyant zu fühlen. Sie glaubte noch immer, einen Anspruch auf die nebulösen Privilegien zu haben, die der Name bot, und wunderte sich, dass die Wyants nicht so dachten. Schließlich nahm sie ihnen Amalasuntha ab – keine leichte Last!
Aber Mrs Lindon hatte nur erklärt, es sei «alles zu peinlich», und erstaunlicherweise mit den Worten geendet: «Dexter selbst hat uns ausdrücklich gebeten, nichts zu sagen.»
Zwischen den Zeilen hieß das: «Wenn du etwas erfahren willst, geh zu ihm!» Wo Fanny doch ganz genau wusste, dass die Frauen von Anwälten und Ärzten als Allerletzte in die Geheimnisse der Klienten und Patienten eingeweiht wurden.
Pauline erhob sich gekränkt und alles andere als abgeneigt, dies auch zu zeigen. «Tja, meine Liebe, wenn es so schrecklich ist, dass du es nicht einmal mir erzählen kannst, dann wundert’s mich, dass du es Hinz und Kunz erzählen willst. Hast du das schon bedacht?»
«Aber ja, durchaus», jammerte Mrs Lindon. «Aber Grant meint, es sei unsere Pflich t … und Dexter auc h …»
Pauline gestattete sich ein leichtes Lächeln. «Dexter vertritt natürlich den Standpunkt des Anwalts, das ist seine Pflicht.»
Mrs Lindon war nicht geistreich genug für boshafte Andeutungen. «Ja», wiederholte sie nur, «er sagt, wir sollen es machen.»
Eine plötzliche Mattigkeit beschlich Pauline. «Schick wenigstens vorher Grant zu mir, lass mich mit ihm reden.» Doch bei sich dachte sie: «Meine letzte Hoffnung ist jetzt noch, über Arthur an sie heranzukommen.»
Sie blickte besorgt aus dem Auto und wartete, dass die Ampel umsprang.
Bei Arthur Wyant war für ihre Ankunft alles gesäubert und geschmückt worden. Man ahnte, dass Cousine Eleanor gerade noch ein paar Zigarettenstummel ins Feuer geworfen, die Sofakissen ein letztes Mal aufgeschüttelt hatte und dann in dem Augenblick zur Hintertür hinausgeschlüpft war, als Mrs Manford zur vorderen hereintrat.
Wyant begrüßte sie mit der üblichen, etwas übertriebenen Herzlichkeit. Er hatte nie so recht den Ton zu treffen gelernt, mit dem ausrangierte Ehemänner herablassende Ehefrauen begrüßen sollten. In dieser Hinsicht war ihm Pauline überlegen. Sie hatte die perfekte Mischung aus Gesetztheit und schwesterlicher Freundlichkeit gefunden, und dass sie ihn nach seinem Gesundheitszustand fragen musste, half ihr immer über die ersten Minuten hinweg.
«Ach, du siehst ja, noch immer mumifiziert.» Er deutete auf sein ausgestrecktes Bein. «Nicht einmal Amalasuntha konnte ich zur Tür begleite n …»
«Amalasuntha? War sie hier?»
«Ja. Hat sich zum Lunch eingeladen. Ein ziemlicher Aufwand für mich; ich bin es nicht gewohnt, vornehme Ausländer zu bewirten, und schon
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