Dämmerschlaf - Roman
Scheidung als gesellschaftlicher Makel betrachtet wurde. Doch nun hatten sie in einem schwierigen Fall erfolgreich Manfords Rat in Anspruch genommen und waren viel zu korrekt, um ihn nicht auf die einzige Weise zu belohnen, an der ihm gelegen war. Die Rivingtons waren die letzte Stufe auf dem Weg der Manfords nach oben.
«Das silberne Moirékleid und meine Perlen.» Das sah vornehm und gleichzeitig exklusiv aus. Pauline war heilfroh, dass Dexter ihr den Besuch fest versprochen hatte – er war in letzter Zeit so widerborstig, wenn es um das ging, was er inzwischen «ihre langweiligen Dinner» zu nennen pflegt e …
Wieder das Telefon – diesmal Dexters Stimme. Pauline lauschte besorgt und fragte sich, ob es einen Sinn hatte, jetzt mit ihm über Amalasunthas merkwürdige Mitteilung zu sprechen, oder ob sie lieber taktvoll warten sollte. Am Ende des Tages war er oft nervös und gereizt. Ja, er sprach mit seiner Fünf-vor-zwölf-Stimme.
«Hör zu, Pauline, ich muss noch ziemlich lange in der Kanzlei bleiben. Bitte sag das Dinner ab, ja? Ich möchte einen ruhigen Abend mit dir allein verbringe n …»
«Einen ruhige n … Aber Dexter, wir essen bei den Rivingtons. Soll ich anrufen und sagen, dass du dich vermutlich verspäten wirst?»
«Bei den Rivingtons?» Seine Stimme klang distanziert und völlig gleichgültig. «Nein. Ruf an, dass wir nicht kommen. Sag ihnen a b … Ich möchte mit dir allein rede n … Können wir beide nicht zu Hause in Ruhe essen?» Er wiederholte die Sätze langsam, als dächte er, sie habe ihn nicht verstanden.
Den Rivingtons absagen? Das war, als müsste sie in der Kirche aufstehen und ihren Gott verleugnen. Sprachlos saß sie da und ließ die unheilvollen Worte in der Leitung nachklingen.
«Hörst du mich nicht, Pauline? Warum antwortest du nicht? Stimmt etwas nicht mit der Verbindung?»
«Doch, Dexter. Mit der Verbindung ist alles in Ordnung.»
«Also, dan n … Du kannst es ihnen ja erkläre n … Sag, was du willst.»
Durch die Tür zum Ankleidezimmer sah sie, wie das Mädchen das silberne Moirékleid, den Chinchillamantel und die Perlen zurechtlegte. Es den Rivingtons erklären!
«Gut, mein Lieber. Für welche Uhrzeit soll ich unser Abendessen bestellen?», fragte sie heldenhaft.
Sie hörte, wie er auflegte, saß noch immer da und starrte in den Nebel, der durch seine Worte nur noch undurchdringlicher geworden war.
15
Am Tag nachdem ihn seine Tochter im «Housetop» gesehen hatte, brach Manford schon früh zu seinem langen Marsch durch den Park auf. In der Kanzlei wurde er erst um zehn Uhr erwartet, und vorher wollte er sich müde laufen.
In den ersten Jahren nach seiner Heirat hatte er sich in der Stadt ein Pferd gehalten und seine morgendliche Verdauungsrunde im Sattel absolviert. Aber der tägliche Galopp über die immer gleichen schmalen Reitwege glich zu sehr der Visite im Blumengarten seiner Frau. Er verlegte sich aufs Spazierengehen, damit es länger dauerte, und wenn er keine Zeit dazu fand, ließ er einen Masseur kommen, der ihn, wie alle anderen, für die langen Stunden des Hetzens im Sitzen, «Beruf» genannt, präparierte. Das ewige Einerlei New Yorks hatte ihn fest im Griff, und manchmal beschlich ihn das Gefühl, dass zwischen Paulines Hast und seiner eigenen im Grunde kaum ein Unterschied bestand. Alle – die Rechtsanwälte, die Bankiers, die Börsenmakler, die Eisenbahnmagnaten und so weiter – schienen ihre innere Leere mit Tätigkeiten zu betäuben, die genauso sinnlos waren wie die der Frauen, zu denen sie abends heimkehrten.
Alles war falsch – irgendetwas daran war grundlegend falsch. Jedermann hatte gewaltige Pläne, wie er seine Macht mehren konnte, und was kam dabei heraus, wenn sie vermehrt war? Nur noch größere Häuser, mehr Essen, mehr Autos, mehr Perlen und eine noch selbstgerechtere Philantropie.
Diese Philantropie verabscheute er am meisten. All diese kostspieligen Projekte zur moralischen Zwangsernährung, die jedermann nötigen wollten, sauberer, stärker, gesünder und glücklicher zu sein, als die Natur dies ohne Hilfe zuwege brachte. Seine Sehnsucht, in eine Welt zu fliehen, in der Männer und Frauen sündigten und Kinder zeugten, lebten und starben, wie es ihnen gerade einfiel, ohne dass ständig optimistische Millionäre einschritten, war so stark geworden, dass er manchmal das Gefühl hatte, die Fessel der Gewohnheit müsse beim geringsten Ruck zerspringen.
Genau deshalb fühlte er sich insgeheim zu Jims Frau hingezogen. Sie
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