Dämmerschlaf - Roman
war die Einzige in seiner Umgebung, der diese gesellschaftlichen Schlagworte absolut nichts bedeuteten. Alle anderen, welche geheimen Versäumnisse oder Schwächen sie auch haben mochten, kleideten ihr selbstsüchtiges Verlangen in den immer gleichen wortreichen Altruismus. Früher ging es um die Pflicht gegenüber dem Nächsten, heute um die Pflicht gegenüber sich selbst. Pflicht, Pflicht – stets Pflicht! Kam man hingegen Lita mit der Pflicht, riss sie nur die Augen auf und fragte: «Stammt das aus dem Trauungsgottesdienst? Lieben, ehren und gehorchen – was für eine komische Zusammenstellung! Was meinst du, wer die erfunden hat? Es war bestimmt Pauline.» Unmöglich, ihre Aufmerksamkeit auf ein Thema zu lenken, das nichts mit ihrer unmittelbaren Befriedigung zu tun hatte, und diese animalische Aufrichtigkeit erschien Manford als ihr größter Reiz. Ein zu großer Rei z … eine furchtbare Gefahr. Das erkannte er jetzt. Er hatte geglaubt, bei ihr Entspannung zu finden, Abwechslung zu haben, und hatte sich dabei nur an den Rand eines Abgrunds manövriert. Ohne die abscheuliche Szene neulich, als er ihr das Foto zeigte, wäre er, alter Narr, der er war, womöglich in die Sentimentalität abgerutscht, und Gott weiß, wo er bei diesem Sturz gelandet wäre. Nun war leidenschaftliches Mitleid an die Stelle seiner albernen Gefühle getreten; die unheilvolle Sirene war nur ein irregeleitetes Kind, und er musste ihr helfen und sie retten, um Jims und ihrer selbst willen.
Seltsam, dass der flammende Hass, mit dem er aus ihrem Haus gelaufen war, in solch ruhige Klarheit hatte münden können. Wäre er an jenem Abend nicht fortgelaufen, er wäre verrückt geworden – hätte etwas zertrümmert, etwas nicht Wiedergutzumachendes angestellt. Stattdessen ging er nun spazieren und dachte in aller Ruhe über seine und ihre Torheit nach. Natürlich musste er sie weiterhin besuchen, dafür gab es mehr Gründe denn je, aber jetzt bedeutete es keine Gefahr mehr, sondern nur noch Hilfe für sie – und vielleicht Heilung für ihn. In diese neue Stimmung verkroch er sich wie in ein unantastbares Refugium. Der Aufruhr und die Qual der letzten Monate konnten ihm nichts mehr anhaben, er hatte einen Ausweg, einen Zufluchtsort entdeckt. Das erleichterte Gefühl, zur Ruhe gefunden, einen Konflikt vermieden, alles ohne Blutvergießen geregelt zu haben, durchströmte ihn wie das Zaubermittel aus der Spritze des Morphinisten. Arme kleine Lit a … Nicht mehr anbetungswürdig (dem Himmel sei Dank), aber umso hilfsbedürftiger und bedauernswerte r …
Diese trügerische Gelassenheit war während des Besuchs bei Mrs Landish über ihn gekommen, ausgelöst von ihrer völligen Gleichgültigkeit gegenüber seinen Lebensgrundsätzen. Er hatte sie besucht – wie ihm jetzt klar wurde –, weil ihn das grausame männliche Verlangen trieb, ein gestürztes Götzenbild von seiner schlimmsten Seite zu erleben. Seine sogenannte «Entschlossenheit, den Dingen ins Gesicht zu sehen» – was war sie anderes als der primitive Wunsch, Beweise gegen die arme Lita zu sammeln? Die Mahatma-Nachforschungen aufgeben? Niemals! Jetzt hatte er erst recht allen Grund, sie fortzusetzen, die ganze unflätige Geschichte aufzudecken, dem armen Jim die Augen über die Vergangenheit seiner Frau zu öffnen (besser jetzt als später) und ihm zu helfen, wieder auf die Füße zu kommen, neu anzufangen und den Glauben an das Leben und das Glück wiederzufinden. Denn natürlich wäre der arme Jim der Hauptleidtragend e … Hol der Henker dieses Weib! Sie wollte Jim loswerden? Bitte, das konnte sie haben – nur umgekehrt. Sie drehten den Spieß um. Dann würde sie schon sehen! So empfand er in der ersten blinden Wut, aber bis er vor Mrs Landishs Tür anlangte, war ihm schon die alte Juristenschläue zu Hilfe gekommen, und er hatte begriffen, dass ein öffentlicher Skandal unnötig war und folglich vermieden werden musste. Auch ohne diesen konnten sie Lita leicht loswerden. Mit einem Beweis, wie er ihn bald präsentieren würde, konnten sie beliebige Forderungen stellen. Jim behielt den Jungen, und die Angelegenheit wurde in aller Stille geregelt – aber zu ihren Bedingungen, nicht zu denen Litas! Sie würde noch dankbar sein, wenn sie mit Sack und Pack verschwinden durfte – verschwinden aus ihrer aller Leben. Pfui! Wenn er sich vorstellte, dass er seine Nona beauftragt hatte, auf sie aufzupasse n … schon von dem Gedanken wurde ihm übel.
Doch am Ende war alles ganz anders
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