Daemmerung der Leidenschaft
erfahren. Lucinda gab es nicht gerne zu, aber Janet hatte ihr gegenüber immer eine gewisse Zurückhaltung an den Tag gelegt, als ob sie sich schämte ... was viel eher bei Lucinda der Fall hätte sein sollen. Statt dessen wünschte die Mutter sehnlichst, Janet käme über ihr Leid hinweg, aber das war nicht geschehen.
Nun, so eine unangenehme Aufgabe hinauszuschieben machte sie nicht weniger unangenehm, wie Lucinda dachte, und sie richtete sich auf. Sie konnte den ganzen Tag herumsitzen und sich den Kopf über die Widrigkeiten und Überraschungen des Lebens zerbrechen oder energisch weitermachen. Lucinda Tallant Davenport gehörte nicht zu denen, die sich mit Jammern aufhielten; ob falsch oder richtig, sie packte die Dinge bei den Hörnern.
Als sie den wohlgeordneten Inhalt der obersten Schublade des Nachtkästchens erblickte, traten ihr wieder Tränen in die Augen. Das war Janet, durch und durch sorgfältig. Da lag das Buch, in dem sie zuletzt gelesen hatte, eine kleine Taschenlampe, eine Packung Tempotaschentücher, eine dekorative Dose mit ihren Lieblingsbonbons, Pfefferminzdrops, und ein verräterischer Lederband. Der Stift steckte noch zwischen den Seiten. Neugierig wischte sich Lucinda die Tränen aus den Augen und nahm das Tagebuch heraus. Sie hatte gar nicht gewußt, daß Janet eins führte.
Sie strich mit der Hand darüber und war sich sehr genau bewußt, welche Information die Seiten unter Umständen enthielten. Es konnten private Anmerkungen zu ihrem alltäglichen Leben sein – aber es bestand auch die Möglichkeit, daß Janet hier das Geheimnis enthüllt hatte, das sie mit in ihr unvorhergesehenes Grab genommen hatte. Und spielte es jetzt noch eine Rolle, wer Jessies Vater war?
Nicht wirklich, dachte Lucinda. Sie liebte Jessie, egal wessen Blut sie in sich trug.
Und dennoch, nach so vielen Jahren des Rätselns und der Ungewißheit war die Versuchung unwiderstehlich. Sie schlug die erste Seite auf und begann zu lesen.
Eine halbe Stunde später tupfte sie sich die Tränen aus den Augenwinkeln und klappte das Buch langsam wieder zu. Dann legte sie es auf den noch übrigen Kleiderhaufen. Es stand nicht allzuviel darin: mehrere schmerzerfüllte Seiten, die sie vor vierzehn Jahren geschrieben hatte, und danach nur mehr sehr wenig. Janet hatte ein paar Eintragungen gemacht, Jessies ersten Zahn, ihre ersten Schritte, ihren ersten Schultag; aber der Großteil der Seiten war weiß geblieben. Irgendwie hatte Janet schon vor vierzehn Jahren aufgehört zu leben, nicht erst vor einem Monat. Armes Mädchen, sie hatte sich so viel erhofft und mit so wenig zufriedengegeben.
Lucinda strich mit der Hand über den Ledereinband. Nun, jetzt wußte sie es! Und tatsächlich änderte es überhaupt nichts.
Sie nahm das Klebeband zur Hand und klebte entschlossen auch den letzten Karton zu.
Zweiter Teil
Der Riß
3
Es war noch ganz früh am Morgen, Roanna sprang rasch aus dem Bett und rannte ins Bad, um sich die Zähne zu putzen. Dann fuhr sie eilig mit den Fingern durchs Haar und kämpfte sich in Jeans und ein T-Shirt. Sie packte noch ihre Stiefel und Socken, um dann barfuß die Treppe hinunterzufliegen. Webb fuhr heute nach Nashville, und sie wollte ihn unbedingt sehen, bevor er ging. Es gab keinen bestimmten Grund dafür, sie ergriff eben nur jede Gelegenheit, um ein paar Minuten mit ihm allein zu verbringen, kostbare Augenblicke, in denen sein Lächeln, seine Aufmerksamkeit ausschließlich ihr galten.
Es war erst fünf Uhr morgens, doch Großmutter würde dennoch schon beim Frühstück im Morgenzimmer sitzen; Roanna fiel es indessen überhaupt nicht ein, auf dem Weg zur Küche dort hineinzuschauen. Webb, der den Reichtum, der ihm zur Verfügung stand, zwar durchaus genoß, scherte sich kein bißchen um Äußerlichkeiten. Er würde in der Küche sein und sich sein Frühstück selbst zubereiten, da Tansy nicht vor sechs Uhr zur Arbeit kam, und dann würde er es gleich am Küchentisch verspeisen.
Sie platzte durch die Tür und entdeckte ihn wie erwartet. Er hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, sich hinzusetzen, sondern lehnte statt dessen an einem Küchenschrank und kaute seinen Marmeladentoast. Eine Tasse heißer Kaffee stand neben ihm auf der Anrichte. Sobald er sie sah, drehte er sich um und ließ noch eine Scheibe Brot in den Toaster fallen.
»Ich hab keinen Hunger«, sagte sie und steckte, auf der Suche nach dem Orangensaft, den Kopf in den einladenden doppeltürigen Kühlschrank.
»Das hast du nie«,
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