Daemmerung der Leidenschaft
hatte. Ihre Sachen waren in Kisten verpackt und auf Davenport verstaut worden, damit Roanna sie zu gegebener Zeit übernähme.
Der Unfall lag jetzt einen Monat zurück. Die rechtlichen Formalitäten waren ebenfalls geregelt, so daß Jessie und Roanna nun ganz offiziell auf Davenport lebten, mit Lucinda als Vormund. Jessie hatte sich natürlich sofort und ohne Schwierigkeiten zurechtgefunden, das hübscheste Zimmer ausgesucht und Lucinda dazu bewegt, es nach ihren Wünschen neu herrichten zu lassen. Lucinda mußte zugeben, daß es nicht viel Überredung gebraucht hatte, denn sie verstand Jessies starkes Bedürfnis, die Kontrolle über ihr Leben zurückzugewinnen, wieder Ordnung in ihr Dasein zu bringen. Das Zimmer war nur ein Symbol. Sie hatte Jessie deutlich zu verstehen gegeben, daß sie, obwohl ihre Mutter tot war, immer noch eine Familie hatte, die sie liebte und unterstützte – daß ihre Welt nach wie vor sicher war.
Roanna dagegen hatte sich ganz und gar nicht eingelebt. Lucinda seufzte und hielt sich eine von Janets Blusen an die Wange, während sie über Davids Tochter nachdachte. Man kam einfach nicht an das Kind heran. Roanna hatte sich allen Bemühungen, sie zur Wahl eines Zimmers zu bewegen, widersetzt, so daß Lucinda schließlich selbst eins für sie bestimmt hatte. Gerechtigkeitshalber mußte es selbstverständlich genauso groß sein, wie Jessies – aber das kleine Mädchen wirkte darin völlig verloren und verlassen. In der ersten Nacht hatte sie brav darin geschlafen. In der zweiten Nacht schlief sie in einem der anderen Räume, wobei sie ihre Bettdecke mit sich zerrte und sich einfach auf die blanke Matratze legte. In der dritten Nacht war es wieder ein anderer Unterschlupf und abermals eine blanke Matratze. Sie hatte in einem Sessel auf dem Speicher geschlafen, auf dem Teppich in der Bibliothek, ja sogar auf dem Fliesenfußboden eines der Badezimmer. Ihr rastloses kleines Herz fahndete nach einem Ort, der ihr gehörte. Lucinda nahm an, daß das Kind mittlerweile in jeder Nische des Hauses, außer dort, wo die anderen wohnten, geschlafen hatte.
Immer wenn Webb am Morgen aufstand, machte er sich zunächst einmal auf die Suche nach Roanna. Egal in welchem Winkel und in welcher Ecke sie sich für die Nacht verkrochen hatte, er spürte sie auf und lockte sie aus ihrem Deckenkokon. Sie war finster und verschlossen, außer bei ihrem Cousin, und interessierte sich für nichts außer Pferde. Frustriert und ratlos gewährte ihr Lucinda unbegrenzten Zugang zu den Ställen, zumindest für diesen Sommer. Loyal paßte auf das Kind auf, und Roanna zeigte sich überraschend geschickt im Umgang mit den Tieren.
Lucinda legte die Bluse zusammen – es war die letzte – und packte sie fort. Nur das Nachtkästchen war noch auszuräumen, und sie zögerte, bevor sie die Schubladen öffnete. Gleich hätte sie es geschafft; das Stadthaus würde ausgeräumt, verschlossen und verkauft werden. Sämtliche Spuren von Janet wären dann beseitigt.
Bis auf Jessie hatte Janet herzlich wenig hinterlassen. Nachdem sie schwanger geworden war, hatte sie kaum mehr gelacht, und aus ihren Augen wich niemals die Traurigkeit. Obwohl sie sich weigerte, Jessies Erzeuger preiszugeben, hatte Lucinda immer auf Dwight, den ältesten Leath-Jungen, getippt. Er und Janet waren eine Zeitlang miteinander gegangen, bis er sich mit seinem Vater zerstritten und freiwillig zum Militär gemeldet hatte, woraufhin er prompt in Vietnam landete. Der Krieg dort hatte erst begonnen, und er schaffte es doch tatsächlich, innerhalb von zwei Wochen, nachdem er den Fuß in das ferne Land gesetzt hatte, zu fallen. Über die Jahre hinweg hatte Lucinda oft in Jessies Gesicht nach einer Ähnlichkeit zu den Leaths geforscht, doch statt dessen nur pure Davenport-Schönheit gefunden. Falls Dwight wirklich Janets Liebhaber gewesen war, dann hatte sie ihm bis zu ihrem Tod nachgetrauert; denn nach Jessies Geburt war sie nie wieder mit einem Mann ausgegangen. Das lag keineswegs an mangelnder Gelegenheit, denn trotz der Peinlichkeit von Jessies Illegitimität war Janet immer noch eine Davenport; natürlich bewarben sich etliche junge Männer um sie. Aber mit dieser Spezies wollte sie nichts mehr zu tun haben.
Lucinda hatte sich mehr für ihre Tochter erhofft. Sie selbst hatte eine tiefe Liebe für Marshall Davenport empfunden und hätte ihren Kindern von Herzen dasselbe gewünscht. David fand mit Karen sein Glück; Janet jedoch hatte nur Leid und Enttäuschung
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