DAEMON
eine endlose Prozession von Gewaltszenen, mal mehr, mal weniger schockierend. In einer schlug ein Mann eine Frau blutig, bis plötzlich ein anderer Mann hereinstürmte und auf den ersten losging, während die verletzte Frau floh. Da waren Szenen von Männern, die kämpften – mit Fäusten, dann mit Messern, schließlich mit Pistolen. Dann kämpfende Kinder. Dann Erwachsene, die auf Kinder losgingen. Frauen, die Frauen attackierten. Dann Straßenschießereien, ritualisierte Duelle, idiotische Unfälle, Stromschläge. Dann sadomasochistische Grausamkeit. Erotisch aufgeladene Gewalt. Dicht gefolgt von Gewalt gegen Tiere. Es sah alles echt aus. Die Leute in den Filmen sprachen meist irgendwelche ausländischen Sprachen, aber die Aufnahmen wirkten roh und ungeschnitten – wie live gedrehte Digitalvideos.
Moselys Reaktionen gingen über die ganze emotionale Palette und waren oft widersprüchlich. Rechtschaffene Empörung und Zorn wechselten mit Erregung, Ekel und allem, was dazwischenlag. Winzige Variationen, was die Interaktion der Personen auf dem Bildschirm anging, lösten extrem unterschiedliche Gefühle aus, auch wenn das Geschehen ganz ähnlich war.
Er hatte keine Ahnung, wie lange das schon so ging. Er fühlte sich wie in einem mörderischen Fronteinsatz. Sein Hirn platzte schier von grausigen Bildern, viel mehr Gewalt würde er nicht verkraften können. Während die Stunden dahinschlichen, änderten sich die Themen immer mal wieder, aber so langsam, dass er es kaum mitbekam. Manchmal kamen frühere Themen wieder. Familienaufnahmen gingen in Bilder aus fernen Ländern und Kulturen über, dann in Bilderder Armut, des Reichtums, in Hochzeitsszenen, Beerdigungen. Autozusammenstöße auf Kreuzungen – offenbar von Verkehrskameras aufgenommen. Eine endlose Serie von Highway-Unfällen: Trümmer, Blut und Tod. Menschen, die sich aus Protest selbst verbrannten. Menschen, die bei wagemutigen Aktivitäten wie Klettern oder Base-Jumping ums Leben kamen. Dann Aufnahmen von wagemutigen Menschen, die Abenteuer erfolgreich bestanden und heldenhafte Dinge vollbrachten. Leute beim Trecking durch wilde Landschaften, beim Erklimmen höchster Gipfel. Dann historische Ereignisse – von der Mondlandung bis zu Chruschtschows Tobsuchtsanfall mit dem Schuh. Malcolm X , übergeblendet in Martin Luther King jr.
Mosely war seelisch und körperlich erschöpft. Und es ging immer noch weiter.
Mosely hatte so ziemlich jedes Gefühl durchlebt, dessen Menschen fähig waren – und nicht nur einmal, sondern hundertmal. Er war längst jenseits seiner Belastungsgrenze, ohne mitgekriegt zu haben, wann er sie überschritten hatte.
Die Bilder gingen weiter. So viele Stunden, dass er kein Gefühl mehr dafür hatte, wie viele es sein mochten, und es ging immer noch weiter. Moselys Mund war ausgetrocknet. Er hatte Mühe, wach zu bleiben. Und immer weiter kamen die Bilder.
Doch etwas begann sich in seinem Kopf herauszuschälen. Wie ein Felsbrocken, der vom Wind langsam freigelegt wird, begann Mosely sich selbst zu sehen. Jetzt, da all seine emotionalen Abwehrmechanismen abgetragen waren, kamen simple Wahrheiten zum Vorschein. Selbst er verstand, was sie besagten: Er war wütend über sein vergeudetes Leben. Er fühlte eine tiefe Trauer, weil er als Kind keine Familie gehabt hatte und weil er es nicht geschafft hatte, seinem Sohn – wo immer der jetzt sein mochte – eine zu geben. Und Mosely fühlte denverzweifelten Wunsch, irgendwohin zu gehören. Wichtig zu sein. Für etwas anderes als nur sich selbst zu stehen. Er war der ewige Außenseiter, der von außen auf die Gemeinschaft der anderen blickte.
Die letzten Filme brachten einen Wendepunkt. Während die vorigen ihn in seine emotionalen Bestandteile zerlegt hatten, schienen ihn diese aufzubauen – es erfüllte ihn mit Freude, Menschen zu sehen, die gemeinsam etwas vollbrachten, sich aufeinander verließen, Opfer brachten. Er sah Dankbarkeit. Fröhlichkeit. Freie Männer, den Blick auf ferne Horizonte gerichtet. Horizonte, die die Wagemutigen riefen, von Risiken kündeten.
Die Leute in diesen Filmen gehörten ganz verschiedenen Rassen und Altersgruppen an, aber Mosely bemerkte, dass sie alle eins gemeinsam hatten: Sie waren entschlossen und hochmotiviert, sie akzeptierten keine Grenzen. Gefahr war nichts Abschreckendes. Sie war voll ausgelebtes Leben. Diese Menschen waren wahrhaft lebendig.
Er hatte die reale Welt schon fast vergessen. Er wusste nicht, wie lange er hier schon lag, doch als
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