Dämonendämmerung - Die Auserwählte (German Edition)
bildete mit einem Mal den einzigen Fixpunkt des Raumes. Der Rest verwandelte sich zu einer wabernden Masse, die sich zunehmend in Nichts auflöste. Lille und Alexander standen am Rande des formlosen Abgrundes und in ihrem Innern sah es nicht besser aus. Eine unendliche Leere griff nach ihren Eingeweiden und ließ das Blut in ihren Adern zu eisigen Klumpen gefrieren. Doro zwang sich mit aller Kraft, ihre Augen von der sich auflösenden Welt abzuwenden und auf die braunrot geschriebenen Seiten des Buchs zu richten. Das Tosen um sie herum erstarb. Einen Wimpernschlag lang herrschte eine Ruhe, die in ihrer Tiefe das ganze Universum zu umspannen schien und die Zeit stillstehen ließ. Aus den fremdartigen Schriftzeichen formierten sich gleißende Wirbel. Sekundenlang erfüllte das grellweiß tanzende Licht den Raum, dann zog es sich zu einem glühenden Ball zusammen, bevor es die schemenhafte Silhouette eines Mannes bildete. Seine Erscheinung war würdevoll und jugendlich zugleich. Er war groß. Sehr groß. Sein hochgewachsener, schlanker Körper überragte sie um mindestens drei Köpfe. Das mittellange graue Haar war nach hinten gekämmt und sein bläulich schwarz glänzendes Gewand erinnerte an das Gefieder einer Krähe. Sein Gesicht spiegelte die allmächtige Weisheit eines Geschöpfes wider, das alle Geheimnisse des Seins kannte, während seine dunklen Augen neugierig auf ihr ruhten.
Sie stand auf. Ihre Hände umklammerten weiterhin das Buch der Geheimnisse . Sie merkte nicht, wie die hauchdünnen Seiten in die Haut ihrer Finger schnitten und das Pergament an den Kanten rot färbten.
„Wer bist du?“, fragte Doro.
„Der, den du gerufen hast. Ich bin der neununddreißigste Geist. Mein Name ist Malphas. Ich kann dich die Gedanken und Taten deiner Feinde sehen lassen, falls du es wünschst“, entgegnete der Grauhaarige.
„Dann gehörst du zu den Guten?“
„Ob Gut oder Böse ist für einen Dämon nicht entscheidend, denn es hängt immer von der Seite ab, auf der du gerade stehst.“
„Darf ich dir eine Frage stellen?“
„Nur zu. Ich nehme an, du kennst meine Vorliebe für Opfer?“
Doro blickte ihn fragend an.
Malphas zog eine seiner schmalen grauen Augenbrauen nach oben. „Du weißt doch, was ein Opfer ist? Ein Obolus, a sacrifice , un offrande . Irgendetwas wird es bestimmt geben, das du mir für meine Dienste hingeben kannst.“
Sie schwieg weiterhin. Es gab genügend Menschen, die ihr Leid zugefügt hatten, aber trotzdem konnte sie sich nicht überwinden, Malphas ihre Namen preiszugeben. Sie spürte, wie sich eine Hand auf ihre Schulter legte und sie drehte sich um. Hinter ihr stand Gelal. Er hatte sich aus Alexanders Körper gelöst.
Malphas wurde ungeduldig. „Auch wenn ich unsterblich bin, habe ich nicht vor, bis in alle Ewigkeit auf deine Antwort zu warten, Dorothea Bergmann. Ich mache dir ein Angebot. Dein Vater hat dich verkauft, verraten und getäuscht. Sein Leben gegen deine Frage. Das ist ein fairer Handel oder?“
„Lass dich nicht von ihm täuschen“, hörte sie Gelals Stimme in ihrem Kopf.
„Was meinst du?“
„Wähle mit Bedacht, was du ihm anbietest. Er wird gleich welches deiner Opfer jederzeit gern annehmen, aber wenn du ihm etwas leichtfertig überlässt, führt er dich in die Irre.“
„Und was soll ich ihm anbieten?“
„Etwas, das du ihm aus freien Stücken und mit einem reinem Gewissen gibst.“
Malphas richtete sich zu voller Größe auf und Gelal traf ein ermahnender Blick. „Es reicht, Incubus“, brummte er, dann wandte er sich Doro zu, „Ich bin gespannt, ob dich die kleine Hilfestellung weitergebracht hat. Entscheide dich, bringst du mir das geforderte Opfer?“
Sie schüttelte den Kopf. „Aber ich biete dir meine Seele an“, antworte sie mit fester Stimme.
„Gehört die nicht schon dem Incubus?“
„Nein. Ihm gehört mein Herz.“
Malphas lächelte gerührt. „Menschen!“, seufzte er, „Ich glaube, ich werde sie nie verstehen. Aber gut, ich nehme dein Pfand an. Es kann nicht schaden, über die Seele einer zukünftigen Succubus zu gebieten. Stell mir deine Frage.“
„Bitte zeig´ mir, wie Thomas Heyder unsere menschliche Welt verändern würde, wenn er die Macht dazu hätte, Malphas.“
Der neununddreißigste Geist nickte. Seine Gestalt begann zu verblassen, während sich das Nichts, das sie umgab, mit Bildern füllte. Doro drehte sich um die eigene Achse. Nicht nur das Zimmer mitsamt seiner Einrichtung, sondern auch Lille und Alexander
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