Dämonendämmerung - Die Auserwählte (German Edition)
waren verschwunden. Außer ihr war niemand mehr hier. Jede der vier Wände glich nun einem Fenster. Noch waren die Bilder in den Fenstern nur vage Umrisse, die immer wieder zu zähem Farbenbrei zerflossen. Ihre Augen huschten zwischen den Wänden hin und her; sie hatte Schwierigkeiten Einzelheiten zu erkennen. Jedes Mal, wenn sie das Gefühl hatte, dass sich die Bilder schärften, verschwammen sie sogleich wieder. Sie war zu hektisch. Sie durfte sich nicht länger von ihrer inneren Unruhe treiben lassen. Sie musste lernen, die Bilder ruhig zu betrachten und begreifen, dass Zeit in der Welt der Dämonen keine wesentliche Rolle spielte. Nach menschlichem Ermessen waren diese Wesen unsterblich und somit war Zeit das Einzige, was jedem einzelnen Geschöpf der Zwischenwelt im Überfluss zur Verfügung stand. Ein Zittern erfasste ihren Körper, während sie sich zwang, ruhig stehen zu bleiben und ihren Blick auf das erste Fenster zu richten.
Malphas zeigte ihr kurze, filmartige Sequenzen. Manche kaum den Bruchteil einer Sekunde lang, aber sie reichten aus, um Doro die gesamte Tragweite von Heyders Tun eindringlich zu beschreiben. Je länger sie bewegungslos verharrte, desto mehr Details stürzten auf ihren Verstand ein. Sie sah Menschen, die versklavt, vertrieben und getötet wurden. Sie sah riesige Waldflächen brennen, Steppen, die sich in Mondlandschaften verwandelten. Verheerende Naturkatastrophen suchten die großen Metropolen dieser Welt und die wenigen Zufluchtsorte der Menschen heim und machten sie binnen weniger Wimpernschläge dem Erdboden gleich. Und über allem thronte nicht nur Heyders, sondern auch ihr eigenes Gesicht. Denn SIE war am Ende diejenige, welche die Hauptgeister kontrollierte und alles Leben auf diesem Planeten erstickte, indem sie es durch die Hilfe der Zweiundsiebzig mit Heyders giftigen Vorstellungen überzog. Die Bilder verschmolzen mit ihren Gedanken. Immer schneller drehten sie sich umeinander. ihre Beine drohten ihren Dienst zu versagen. Noch einmal kämpfte sie dagegen an, dann wurde die Muskulatur weich und gab nach. Sie sackte zusammen. Nicht mehr lange und sie würde neben ihrem Verstand auch ihr Bewusstsein verlieren. Mit letzter Kraft schlug sie das Buch zu…
Die altbekannte Einrichtung des Kaminzimmers kehrte langsam aus dem grauen Nebel des Nichts zurück. Doro kauerte auf dem weichen Teppich und umklammerte krampfhaft mit den Armen ihre beiden Knie. Sie zitterte so stark, dass ihre Zähne geräuschvoll aufeinander schlugen. Nur zögernd nahm ihr Geist das Diesseits wieder wahr. Während ihre linke Seite weiterhin von einer eisigen Kälte erfüllt war, brannte ihre rechte Flanke so heiß, als stehe sie in Flammen. Scheu blickte sie sich um und stellte dabei erleichtert fest, dass über ihren Schultern die vertraut duftende Wolldecke lag, derweil im Kamin ein wärmendes Feuer flackerte. Was war bloß mit ihr geschehen? Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie in der Beantwortung dieser Frage feststeckte, aber auf jeden Fall hatte es gereicht, ein ordentliches Feuer im Kamin zu entfachen.
Noch immer war sie allein im Zimmer. Wo waren Alexander und Lille? Einen Moment war sie fest entschlossen, in Panik zu geraten, doch ihre Nervosität legte sich, als wohl bekannte und sehr menschliche Geräusche an ihr Ohr drangen. In der Küche hörte sie das Klacken mit dem sich der elektrische Wasserkocher abschaltete und über den Flur drang das gurgelnde Rauschen der alten WC-Spülung. Doro seufzte und die Anspannung wich aus ihrem Verstand. Jetzt konnte sie sich sicher sein, ihre Seite der Welt hatte sie wieder.
„Wie geht´s dir?“, fragte Alexander und hielt ihr einen dampfenden Henkelbecher hin.
Doro hob unschlüssig die Schultern. Wenn sie ehrlich war, fühlte sie sich hundsmiserabel. Sie nahm ihm die hellgrüne Steinguttasse ab.
„Was ist das?“, wollte sie wissen.
„Kräutertee. Etwas Heißes, wird dir gut tun“, antwortete er knapp und setzte sich neben sie auf die Sessellehne.
Lille kam ebenfalls zurück. Sie nahm in dem zweiten Sessel Platz und lächelte ihr schüchtern entgegen. Offensichtlich wusste sie nicht so richtig, wie sie mit der gegenwärtigen Situation umgehen sollte. „Hast du eine Antwort auf deine Frage bekommen?“, erkundigte sie sich. Unsicherheit lag in ihrer Stimme.
„Ja.“ Doro nippte an dem Tee, verzog im selben Moment das Gesicht, weil sie sich die Zunge verbrannt hatte.
„Was hat Heyder vor? Was hast du gesehen? Was passiert, wenn er
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