Dämonisches Tattoo
entfuhr es Chase. Ihm war klar, dass die früheren Morde nichts damit zu tun hatten – all die Morde, die er begangen hatte, bevor er Diana umgebracht hatte, um Frank zu bestrafen. Erst da hatte sich alles auf eine persönliche Ebene verschoben und war zu einem Spiel für ihn geworden, in dem es ihm nur darum ging, etwas zu beweisen. Chase konnte sich sogar noch an das Gespräch erinnern, auf das Summers anspielte, jene Unterhaltung, während der Summers voller Überzeugung erklärt hatte, dass in jedem Menschen ein Mörder steckte, und Chase dagegengehalten hatte. »Scheiße, Summers! Das alles wegen einer Aussage von mir? Deswegen setzen Sie alles aufs Spiel? All die Jahre, in denen Sie der Polizei immer einen Schritt voraus waren, in denen Sie Ihre Überlegenheit demonstriert haben – und jetzt riskieren Sie alles, nur um mir zu beweisen, dass ich womöglich unrecht hatte?«
»Womöglich?« Summers lachte. »Sie hatten ganz
sicher
unrecht und Sie werden es sich in dem Moment eingestehen, indem Sie Mrs Wilkes hier das Leben nehmen, um Ihre Freundin zu retten.«
»Noch ist es für Sie nicht vorbei, Ben.« Chase hatte seine Ruhe wiedergefunden. »Wenn Sie jetzt aufgeben und niemandem hier etwas zustößt, werde ich dafür sorgen, dass Ihnen die Todesstrafe erspart bleibt. Sie werden den Rest Ihres Lebens hinter Gittern verbringen, im Gefängnis oder in einer Anstalt, aber wenn ich Ihnen geistige Unzurechnungsfähigkeit attestiere, werden Sie mit dem Leben davonkommen.«
»Und was für ein Leben soll das sein?«, schnaubte er. »Hinter Gittern, umgeben von Irren oder von gewöhnlichen Verbrechern und Mördern, die lediglich Schlachtvieh vor sich sehen statt Kunstobjekte?« Er schüttelte langsam den Kopf. »Alles hat einmal ein Ende. Wie jede Kunst verliert auch diese mit der Zeit ihren Reiz. Aber für Sie wird es sich gut anfühlen. Mein Gott, ich beneide Sie darum! Sie haben es noch vor sich, herauszufinden, wie es ist, zum ersten Mal eine Klinge in das Fleisch eines Menschen zu stoßen. Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen und noch einmal erleben, wie die ersten Male waren.« Ein fiebriger Glanz hatte sich über seine Augen gelegt, trotzdem hielt er nach wie vor die Klinge an Kates Hals. »Das berauschende Gefühl, nicht erwischt zu werden, und von Mal zu Mal das Vorgehen zu perfektionieren, als würde man ein Handwerk erlernen. Das ist wunderbar. Einzigartig! Aber für mich ist es vorbei.« Schlagartig war sein Blick wieder klar. Er zuckte die Schultern. »Man sollte aufhören, wenn man auf dem Höhepunkt seines Schaffens angekommen ist, und ich denke, das hier«, mit einer ausholenden Geste umfasste er die gesamte Halle, Kate, die gefesselte Frau, Chase und sich selbst, »wird ein Abgang, der in die Annalen der Geschichte eingeht. Vermutlich schaffe ich es damit nicht nur in Bücher, Zeitungen und ins Fernsehen, sondern auch in die Polizei- und FBI-Lehrbücher. – Lassen Sie uns nicht noch mehr Zeit verschwenden. Fangen Sie endlich an, Agent.«
Chase nahm das Messer, darauf bedacht, den Leitungen im Verteilerkasten nicht zu nahe zu kommen. Die Augen der Frau starrten ihm entgegen, aufgerissen und voller Entsetzen. Unterdrückte Laute schlüpften durch die Lücken ihrer zusammengenähten Lippen, drängten nach draußen und verhallten als gedämpftes Wimmern.
»Schneiden Sie ihr über die Wange – ich will sehen, ob Sie es können.«
Chase rührte sich nicht.
»Sie sollten besser tun, was ich verlange. Jedes Mal, wenn Sie sich weigern, meine Anweisungen auszuführen, wird Ihre Freundin dafür büßen. Und im Gegensatz zu der Frau vor Ihnen werden Sie Kate schreien hören. Jedes Mal.«
Chase’ Finger schlossen sich so fest um den Griff des Messers, dass sich der Kunststoffgriff in seine Handflächen grub. Nur ein Schnitt. Ein winziger Schnitt über die Wange der Frau konnte ihm die Zeit erkaufen, einen Plan zu fassen. Doch was, wenn ihm nichts einfiel? Ein weiterer Schnitt und immer noch einer, bis die Frau tot war?
Nein!
Es ist nur ein Schnitt ins Gesicht,
versuchte er sich zu überzeugen. Aber was mit einem harmlosen Schnitt anfing, würde sich schnell steigern. Er durfte den Anfang nicht machen, konnte die Linie nicht überschreiten, die ihn von Menschen wie Summers trennte.
Wo begann es? Wo hörte es auf?
Er spürte eine Berührung in seinem Geist. Der Killer versuchte in seinen Verstand einzudringen, doch Chase hielt die Tür geschlossen, verweigerte ihm den Zugriff auf seinen
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