Daisy Sisters
sich zu und wünschen einander ein letztes Mal frohe Weihnachten, wie eine abschließende Versicherung …
Eivor merkt, dass es ihr schwerfällt, nicht mehr an Erik zu denken. Sein graues Gesicht, der Hustenanfall. Sie hat sich oft gefragt, warum sie eigentlich aus Hallsberg weggezogen sind. Dass Erik besser bezahlt würde und dass Elna in die Nähe ihrer alten Freundin Vivi käme, dass sie Hilfe erhaltenkönnten, um ein eigenes Haus zu bauen … Ja doch, das waren Gründe, gewiss. Aber da fehlt etwas in dem Bild. War Erik wirklich willens, ohne Weiteres seine Arbeit im Rangierbahnhof gegen einen staubigen und schmutzigen Fabrikplatz zu tauschen? Und eine Putzstelle hätte Elna doch auch in Hallsberg bekommen können …
Nein, da ist etwas, was nicht stimmt, etwas, was Eivor nicht versteht.
Wenn Elna doch nur darüber sprechen würde, denkt Eivor. Ein einziges Mal. Genau sagen, wie es ist. Es ist merkwürdig, dass Menschen wie wir nie über unser Leben sprechen, als ob unsere innersten Gedanken und Gefühle etwas Hässliches oder Geschmackloses wären. Oder als ob es ein Zeichen von Schwäche wäre zuzugeben, dass man manchmal in der Nacht wach liegt und am liebsten auf die Straße hinausrennen und laut schreien würde. Aber das tut man eben nicht. Nicht, wenn man aus einer ehrbaren und genügsamen Arbeiterfamilie aus Sandviken stammt …
Heiligabend verläuft so schön, wie man es sich nur wünschen kann. Als Eivor sich auf das Sofa legt, das Linnea ihr zurechtgemacht hat, und der Tannenbaum mit seinen elektrischen Kerzen leuchtet, spürt sie, wie eine große Zufriedenheit sich in ihr ausbreitet. Die Erwachsenen haben die Jahresprüfung bestanden, die Kinder sind zufrieden in ihre Betten gekrochen. Und jetzt wird sie ihr lang ersehntes Geschenk bekommen. Zehn Tage nur für sich selbst. In wenigen Stunden wird sie aufstehen und den ersten Zug nehmen, der am Weihnachtstag nach Göteborg fährt.
Der alte Hund tappst über den Boden, aus dem Schlafzimmer ist Arturs und Linneas Schnarchen zu hören, und Eivor rollt sich zusammen und zieht die Decke zum Kinn hoch. Es ist nach Mitternacht, und sie schläft und träumt, dass sie in ihrem eigenen Bett in Göteborg liegt …
Als sie nach Hause kommt, geht sie in der Wohnung herum, als wollte sie sich vergewissern, dass wirklich nur sie sich hier aufhält, dass sich niemand versteckt hat und ihr Alleinsein bedroht. Dann setzt sie sich aufs Sofa und tut gar nichts. Zerstreut klopft sie eine Zigarette aus dem Päckchen, aber sie schiebt sie wieder zurück.
Sie sitzt auf dem Sofa und weiß, dass sie kein schlechtes Gewissen haben muss, weil sie es so verzweifelt schön findet, allein zu sein, ohne Kinder, ohne Pflichten. Hat sie das jemals vorher getan? Von den Kindern fort zu sein, ohne ein ständig hackendes und nagendes Gewissen zu spüren? Die vernachlässigende Mutter, der egozentrische Mensch, der die Stirn hat, nur an sich selbst zu denken, auch wenn es nur für wenige armselige Sekunden in diesem Leben ist, das mit unbegreiflicher Schnelligkeit vorbeirast … Nein, es ist das erste Mal, und hätte sie gekonnt, so hätte sie angefangen zu singen. Wie hatten Elna und Vivi sich damals genannt, als sie in jenem Kriegssommer in Dalarna mit dem Fahrrad herumfuhren? Daisy Sisters? Zwei Mädchen, die fast unanständig glücklich waren darüber, ganz frei und unabhängig zu sein. Und dann wurde sie geboren …
So ist das wohl, denkt sie. Wenn man als Frau auf die Welt gekommen ist, dann muss man die wenigen Stunden ausnutzen, in denen es einem erlaubt ist zu singen. Beim Radfahren im Duett singen, die Gelegenheit nutzen, denn ehe man sich’s versieht, ist es zu spät. Dass Mutter und ich verschieden sind, ist für alle offensichtlich. Aber wie viele erkennen, dass wir in mancher Hinsicht auch gleich sind?
Dämmernder Nachmittag. Sie schaltet den Fernseher an und geht in die Küche, um Teewasser aufzusetzen. Eigentlich müsste sie jetzt kochen, aber sie lässt es bleiben. Auch das ist ein Zeichen der Freiheit, sich erlauben zu können, nur ein belegtes Brot zu essen.
Es schellt an der Tür, und sie überlegt hastig, ob sie öffnen soll oder nicht. Es könnte Kajsa Granberg sein, die sich einsam fühlte, und obwohl Weihnachten ist und man nachsichtig mit seinen Mitmenschen sein soll, fühlt Eivor, dass sie es gerade heute nicht mit ihr aushält. Aber wollte sie nicht zu Verwandten nach Arvika reisen … Es schellt wieder, und an dem Signal erkennt Eivor, dass es jemand
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