Daisy Sisters
Ich fliege mit Tjaereborg. Falls etwas passieren sollte. Ich lege einen Zettel mit der Adresse hier auf den Tisch. Grüß die Kinder.«
»Du bist nicht gescheit. Du …«
»Ein Mal im Leben bin ich tatsächlich gescheit«, unterbricht sie ihn. Und dann legt sie auf.
Sie hat plötzlich das Gefühl, etwas Schwieriges geschafft zu haben. Eine Prüfung bestanden zu haben. Und zum dritten Mal an diesem Abend packt sie ihren Koffer.
Um fünf Uhr sitzt sie mit einer Kaffeetasse vor sich in der Küche und starrt auf den geschlossenen Koffer am Boden.
Am Handgriff leuchtet ein Namensschild.
»Ich bin wirklich nicht gescheit«, denkt sie. »Überhaupt nicht.«
Siebzehn Minuten vor sechs schellt es an der Tür. »Du hast doch nicht etwa deinen Pass vergessen?«, fragt er.
»Nein«, antwortet sie.
Er nimmt den Koffer, sie schließt die Wohnungstür ab.
Im Taxi sitzen sie schweigend auf dem Rücksitz. Plötzlich fällt ihr ein anderer Rücksitz ein in einer anderen Zeit, aber sie beeilt sich, den Gedanken zu verjagen.
Mein Gott, denkt sie. Bin das hier wirklich ich …
Sie wartet in der geschlossenen Cafeteria, während Lasse Nyman das Einchecken erledigt. Die Smörgåsvitrinen sind leer, die Tür zu Enokssons Büro ist zu und sicher doppelt verschlossen.
Wenn wir nur erst in der Luft wären, denkt sie. Hoch in der Luft, damit ich nicht mehr weglaufen kann.
Punkt sieben hebt die Con-Air DC-9 mit Passagieren zur Algarve und nach Funchal ab. Die Flugzeit nach Lissabon ist berechnet auf … Sie sitzt an einem Fenster, es ist ihr erster Flug, und als das Flugzeug die Wolken durchbricht und eine gleißende Sonne wie auf eine winterliche Schneelandschaft scheint, wird alles so unwirklich, dass sie fast anfängt zu glauben, es sei wahr …
»Es ist schön, irgendwohin zu kommen, wo einen keiner wiedererkennt«, sagt Lasse Nyman.
»Wo einen keiner kennt, meinst du wohl?«
»Habe ich das nicht gesagt?«
»Nein. Du hast wiedererkennt gesagt!«
»Das ist wohl eine alte Gewohnheit. Einmal Dieb, immer Dieb.«
»Woher hast du das Geld, mich zu alldem einzuladen?«
»Ein Pferd lief so, wie es sollte. Schnell also. Und wir waren nicht so viele, die das wussten … Trabrennen.«
»Ach ja …«
Das Flugzeug schleudert Eivor und Lasse Nyman mit irrsinniger Geschwindigkeit auf die kleine Insel im Atlantik. Sie reden nicht viel miteinander. Eivor sitzt mit der Stirn an das kleine Fenster gelehnt und schaut auf die Wolken, die manchmal aufreißen und Länder und Meere freigeben. Anscheinend versteht er, dass sie in Ruhe gelassen werden will. Aber etwas von dem, woran sie sich aus der Zeit vor sechzehn Jahren erinnert, tritt wieder hervor. Unter dem dunkelblauen Anzug scheinen die Reste einer Lederjacke zu schimmern …
Zwischenlandung in Lissabon und dann weiter, hinaus über das dunkelblaue Meer zu dem schmalen Klippenabsatz, zu Madeiras Flugplatz Santa Catarina. Eivor sieht die hohen Klippen weit unter sich auftauchen, ein Keil, der sich aus dem Meer erhebt, eingebettet in Grün. Das Flugzeug senkt sich, ein schwarzer Asphaltstreifen rast ihr entgegen, und die großen Gummireifen prallen auf die Erde.
Als Eivor die Gangway hinuntergeht, wird sie von einem milden Nieselregen empfangen. Hinter dem Flughafengebäude türmen sich steile, bewaldete Lavarücken auf und verschwinden zwischen den Wolken.
In diesem Augenblick weiß sie, dass alles, was geschieht, wahr ist. Dagegen erscheint das, was sie verlassen hat, Göteborg, Weihnachten, der nasskalte Wind vom Kattegatt, wie ein unwirklicher Traum.
»Jetzt brauchst du den Pass«, sagt Lasse Nyman, als sie zum Flughafengebäude gehen.
»Ich hab ihn hier«, sagt sie und klopft auf ihre Handtasche.
Und als der sanfte Grenzpolizist mit seinem schwarz gelockten Haar und sonnengebräunten Gesicht in ihrem Pass blättert und das Foto mit ihrem Gesicht vergleicht, hat sie das Gefühl, als wäre das einer der wichtigsten Augenblicke ihres Lebens. Verglichen und für gut befunden – im Verhältnis zu keinem anderen als ihr selbst. Keine Fragen nach dem Mann oder den Kindern, wer sich jetzt um das Einkaufen und die Mülltüten kümmert, die Wäsche und die Schrammen. Hier geht es nur um sie, und sie bekommt einen Stempel in den Pass: Entrada, Aeroporto Funchal, Guarda fiscal serv. Fronteiras …
Es ist der 26. Dezember 1972.
Sie sitzen in einem Bus auf dem kurvigen Weg nach Funchal. Es ist, als würden sie auf einem schmalen Brett über diese Insel balancieren, die nur aus steilen,
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