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Daisy Sisters

Titel: Daisy Sisters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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allenfalls fünfundzwanzig Tabletten auf Rezept bekommen.«
    In der nächsten halben Stunde hört sie zu, was er alles zu erzählen hat, und glaubt zu verstehen, dass seine Tränen keine Krokodilstränen waren. Die Qual, der er Ausdruck gibt, ist echt. Das, was er sagt, unterscheidet sich nur in Einzelheiten von dem, was er ihr in ihrer Wohnung in Göteborg einige Monate früher gestanden hat. Aber jetzt ist es nicht die Aufzählung der Ereignisse, die ihm das Rückgrat gebrochen haben, sondern eher die Beschreibung eines von Albträumen gejagten Menschen. Der verzweifelte Siebzehnjährigemit seinem mageren Gesicht und den schmutzigen Fingern sitzt auf einmal wieder vor ihr, und sie hat nicht den Eindruck, dass sein Klagelied falsch klingt, es ist weder übertrieben noch pathetisch. Die weißen Schachteln mit den grünen Etiketten, auf denen Roche steht, bilden also den Grundstoff, der ihn zusammenhält, den Leim für sein undichtes Leben.
    Sie sieht ihn an, seine Hände, die die Pillenschachteln bewegen, als ob sie Figuren in einer Schachpartie wären, die schon vor langer Zeit hätte beendet werden sollen. Der König ist geschlagen, aber die Spieler weigern sich noch aufzugeben …
    »Ich bin so verdammt einsam«, sagt er. Und mit einem Zusatz von Ironie: »Es ist mir nicht einmal geglückt, auf die Liste von Schwedens fünfzehn gefährlichsten Verbrechern zu kommen. Was, zum Teufel, hat mein Leben für einen Wert?«
    Sein Problem ist zu groß für mich, denkt Eivor. Das ist etwas anderes als die Schürfwunden, an die ich gewöhnt bin. Und was ist meine Hausfrauenangst gegen das, was er durchmacht?
    »Sieh her«, sagt er und zeigt seine Handgelenke, wo Eivor die weißen Narben nach dem unvollendeten Angriff auf die Pulsadern erkennen kann. »Und hier«, fährt er fort und beugt seinen Kopf. Mit den Fingern zieht er die Haare zur Seite, und Eivor sieht die Deformation des Schädelknochens, nachdem er mit dem Kopf gegen die Zellenwand geknallt ist. »Ich bin immer auf dem Sprung, mir das Leben zu nehmen«, sagt er. »Früher oder später werde ich es schaffen.«
    »Tu das nicht«, antwortet sie hilflos.
    »Warum nicht?«
    Aber hat sie darauf eine Antwort? Natürlich nicht.
    »Ich benehme mich wie ein Schwein«, sagt er. »Immer wieder.« Das ist seine Art, die Demütigung auf seine Stirn zustempeln. »Ich stürze mich ohne Anlass auf dich, ich mache Leuten das Leben schwer, die nur freundlich sein wollen. Alles, was ich tue, ist ein Versuch zurückzuschlagen. So ist es immer gewesen.«
    »Ich glaube, ich verstehe«, sagt sie.
    »Das tut keiner.«
    Er schaut sie an.
    »Wenn ich nur einen Menschen hätte, um den ich mich kümmern könnte«, sagt er.
    Sie ist sofort auf der Hut, und er merkt es. Er sammelt seine Pillenschachteln ein, stopft sie in die Taschen und steht auf. »Ich gehe jetzt«, sagt er.
    »Das brauchst du nicht, wenn du nicht willst.«
    Aber er steht schon an der Tür, mit der Hand auf der Türklinke.
    »Trink nicht so viel«, sagt sie.
    Er schüttelt den Kopf, und hätte sie es gewagt, so hätte sie ihn in den Arm genommen, den kleinen Schritt gewagt, hinaus aus dem unverbindlichen Mitgefühl.
    Am nächsten Tag, als sie ihn im Frühstückssaal trifft, ist er verändert. Er winkt sie zu sich an seinen Tisch, und sie sieht, dass er sorgfältig gekleidet ist.
    »Das hat mir geholfen gestern«, sagt er. »Ja, wirklich.«
    »Wie schön!« Sie hört ihre lächerliche Antwort. Aber was soll sie sonst sagen?
    Die Folge ist dennoch, dass die drei Tage und Abende, die ihnen noch bleiben, anders verlaufen. Sie machen gemeinsame Ausflüge, kaufen Geschenke, baden im Meer. Von Convento de Santa Clara , dem Kloster auf dem Berghang oberhalb von Funchal, fahren sie mit dem Ochsenkarren, sie essen zu Abend und hören den Gitarre spielenden alten Männern zu, die sentimentale und scheinbar endlose fados vortragen. Eines Abends überredet er sie, ihn zum Casino zubegleiten, und ohne dass sie richtig versteht, wie es zugeht, folgt sie seinen Erklärungen zu Black Jack, Chemin de fer und dem gewöhnlichen Roulette, wo sie in einem erhebenden Augenblick erlebt, wie der Croupier ihr einen Stapel mit schwarzen Spielmarken zuschiebt, nachdem die Kugel auf der Neunzehn angehalten hat. Und die ganze Zeit ist Lasse aufgedreht und aufmerksam. Sie kann hoffen, dass das nicht nur ein vorübergehender Zustand ist, und wagt es, sich zu entspannen. Sie erlebt ihn plötzlich sowohl charmant als auch voller Lebenshunger. Wenn sie nur

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