Daisy Sisters
sein wird, ob es nicht ein Albtraum war. Die drei Männer, in anonymes Grau gekleidet, werfen sich auf ihn, und ehe er in der Lage ist, sich zu wehren, hat man ihm schon Handschellen angelegt,und er wird abgeführt. Nicht nur Eivor erlebt, dass alles viel zu schnell geht, um Wirklichkeit zu sein. Sie sieht in die aufgerissenen Augen eines Kindes, das verständnislos zusieht, wie Lasse Nyman abgeführt wird.
Sie geht zu der Stelle am Rollband, an der er eben noch stand, um ganz sicher zu sein, dass sie sich nicht getäuscht hat.
Natürlich bin ich ein Dieb. Aber dieses Geld hier hat damit nichts zu tun. Das war seine Antwort, als sie ihn fragte, woher er das Geld für die Reise nehmen würde. Und diese Antwort kam so schnell, dass sie gar keine Möglichkeit haben sollte zu merken, wie ausweichend sie war. Sie hörte nur, was sie hören wollte, aber als sie jetzt ihren Koffer erspäht, ihn vom Rollband herunterhebt und Lasse Nymans Koffer weiter herumfahren sieht, merkt sie, dass sie auf jeden Fall nicht von schlechtem Gewissen geplagt wird. Er hat den Raub verübt, nicht sie.
Sie will auch seinen Koffer vom Band heben, als sie sich in einer plötzlichen Eingebung umdreht und sieht, dass die Koffer aller Passagiere vom Zollpersonal kontrolliert werden. Sie lässt seinen braunen Koffer weiter auf dem schwarzen Band kreisen und geht davon.
Sie ist vollkommen ruhig, als sie ihren Koffer einem wachsamen Zollbediensteten vorzeigt, und sie denkt, dass sie wohl noch mehr Selbstbeherrschung aufbringen muss, wenn ihm das jetzt auf irgendeine Weise helfen soll.
Als sie nach Hause in ihre Wohnung in Frölunda kommt, ist sie erschüttert. Sie sitzt im Wohnzimmer, das vorwurfsvoll und feindlich auf sie wirkt mit seiner muffigen, abgestandenen Luft. Sie denkt daran, dass er ständig in Dunkelheit und Schatten lebt und dass er immer auf die gleiche Art verschwindet oder weggeschleppt wird, die Hände in Handschellen.
Und natürlich macht sie sich irgendwann doch Vorwürfe. Hätte sie etwas für ihn tun können? Sie ist weder Missionarin noch Nonne oder Sozialarbeiterin, und sie ist auch nicht gut im Zuhören, aber gab es etwas, was in ihrer Macht gestanden hätte? Eine unklare Selbstanklage lässt sie nicht los, und es dauert lange, bevor sie aufsteht, um das Fenster zu öffnen und den Mantel auszuziehen.
Sie fährt nicht nach Borås. Sie ruft nicht einmal an, um den anderen ein gutes neues Jahr zu wünschen und mitzuteilen, dass sie wohlbehalten zurück ist. Sie sitzt auf dem Sofa und denkt nach. An diesem ersten Tag im neuen Jahr denkt sie an sich selbst und an ihre Zukunft mit einer Gründlichkeit, die sie bisher nicht an sich kannte. Allein zu sein und die Situation zu beherrschen, das Leben als eine überschaubare Landschaft zu betrachten. Sie stellt sich die Frage, ob das, was sie erlebt hat, der Anfang vom Ende oder das Ende vor einem Neuanfang ist. Im neuen Jahr wird sie den Beweis erbringen, dass sie ihre Zukunft mitgestalten kann, und das stimmt sie versöhnlich.
Januar 1973. Ein Wintermonat, so intensiv, dass alle früheren Winter milde und hell dagegen wirken. Die Kälte und der Nordwestwind nagen sich durch jeden Schutz, beißen sich durch Pelze, Pullover und Schichten von kratzender Unterwäsche. Es ist der Monat der blauen Nasen. So schlimm verfroren, wie die Kinder sind, wenn sie von der Schule nach Hause kommen, kann sie sich nicht erinnern sie jemals vorher gesehen zu haben.
Der Ausflug nach Madeira ist genauso unwirklich, als hätte sie einen Besuch auf irgendeinem der Sterne gemacht, die in den kalten Winternächten funkeln, wenn die Temperatur unter die magische Zwanzig-Grad-Marke rutscht. Nur die schnell verschwindende Sonnenbräune zeigt, dass der Aufenthalt wirklich stattgefunden hat. Wenn sie den Kindernoder den neuen Arbeitskollegen von Madeira erzählt, wird sie manchmal von dem Gefühl heimgesucht, zu lügen. Zumal sie einen wichtigen Bestandteil der Reise auslassen muss, Lasse Nyman. Am Neujahrstag gibt es keine Zeitungen, aber am 2. Januar, im Zug nach Borås auf dem Weg zu den Kindern, liest sie, dass der Bankräuber Lasse Nyman ohne weiteres Aufsehen auf dem Flugplatz Torslanda gefasst wurde. Sie liest auch, dass das Geld, das ihren Aufenthalt auf Madeira möglich gemacht hat, vermutlich aus einer der Enskilda Banken in Mittelschweden stammt, genauer gesagt aus Katrineholm, wo Lasse Nyman jetzt in Untersuchungshaft sitzt.
In dem langsam dahinzuckelnden Personenzug hat sie das sichere Gefühl,
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