Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Daisy Sisters

Titel: Daisy Sisters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
Vom Netzwerk:
aber nicht weniger für Staffans. Borlänge ist eine kleinere Stadt. Natürlich gibt es da Probleme, viele Probleme, aber alles ist doch überschaubarer. Es ist möglich, die Stadt im Griff zu haben, im Gegensatz zu Stockholm oder Göteborg, wo die Stadt einen beherrscht. Wenn sie noch etwas aus ihrer Situation machen will, muss sie ihre zufällig gepflanzten Wurzeln kappen. So geht dieses Treffen noch einen ganzen Abend und eine ganze Nacht weiter, und als sie sich am nächsten Tag trennen, hat Eivor versprochen, ernsthaft darüber nachzudenken, und Liisa gebeten, sich umzusehen, wo sie in Borlänge wohnen und eine Arbeit finden könnte.
    Aber bevor es dahin kommt, dass sie auf dem Bahnsteig stehen, auf ihre verspäteten Züge warten und sich über die Schienen hinweg die letzten Grüße zurufen, hat Eivor auch eine ordentliche Strafarbeit bekommen, die sie mit nach Göteborg nehmen muss. Während der Nacht, als beide mal eine Pause gemacht haben, fiel es Eivor ein zu fragen, was Liisa damit meint, dass sie nie etwas gewusst habe.
    »Verstehst du das nicht?«, fragt Liisa und ist aufrichtig verwundert. »Verstehst du das auch nicht? Verdammt, was bist du schwerfällig!«
    Und in einem erneuten Versuch zu erklären, einem Versuch,der jedem Pädagogen zur Ehre gereicht hätte, kommt sie noch einmal auf die Grundelemente des Lebens zu sprechen, die sie »Zusammenhang« und »Umwelt« nennt. Darauf, dass Eivor es nie vermocht hat, sich selbst als ein Teil in einem größeren Zusammenhang als den ihrer Familie und ihrer Arbeit zu sehen. Warum steht sie verständnislos vor dem, was ihr geschieht, als sei gerade sie für eine verblüffende Serie unglücklicher Umstände ausersehen? Sie ist doch keine ausgewählte Landebahn für verunglückte Flugzeuge, die Weltgeschichte gerät nicht jedes Mal aus den Fugen, wenn sie sich auf der Straße zeigt oder ihre Gardine hochzieht. Sie ist kein Satellit, der einsam seine Bahn zieht, sie ist Teil eines Zusammenhangs. Und ehe sie das nicht einsieht und anfängt, Erklärungen dafür zu suchen, was um sie herum geschieht, wird sie wie eine Beinamputierte durchs Leben robben, der man die Krücken geklaut hat.
    Obwohl alles, was Liisa in diesen Augenblicken sagt, verwirrend und widersprüchlich klingt, sieht Eivor doch ein, dass sie alles in sich speichern muss, für zukünftigen Nutzen und Gebrauch. Und mehr erwartet Liisa auch nicht.
    »Ich bin keine verlorene … Wie sagt man? … Verlorene Seele? Aber manchmal ist es gut, wenn man jemanden hat, der einem in den Arsch tritt.«
    »Hast du jemanden?«
    »Ja doch. Viele … Bei Domnarvets … Und Arvo …«
    »Wen?«
    »Meinen Sohn! Arvo!«
    »Ja. Natürlich …«
    Wer aber glaubt, das Treffen in Hallsberg zwischen Sirkka Liisa Taipiainen und Eivor Maria Halvarsson sei von düsterem Ernst geprägt, nur hier und da unterbrochen von Ausbrüchen der Ungeduld, hat das Ganze von Anfang bis Ende missverstanden. Genau das Gegenteil ist der Fall, dasind zwei Frauen, die einander wiedersehen, nachdem jede von der anderen geglaubt hatte, dass sie in einem unbekannten Kaff untergegangen wäre, zwei Frauen, die lachen und ihre Erkenntnisse und ihre Lebenslust großzügig miteinander teilen.
    Denn warum sollten sie sonst um vier Uhr morgens anfangen, ihre Kleider zu tauschen, und dann fast vor Lachen ersticken, als sie das Resultat betrachten? Außerdem kann Eivor da noch deutlicher sehen, was Liisa gemeint hat: dass Eivor gekleidet ist wie jemand, der sie nicht ist, aber glaubt sein zu müssen.
    Als Eivors Zug nach Göteborg kurz vor drei an diesem Sonntagnachmittag in die Station einfährt und Liisa wie hinter einer Schiebekulisse verschwindet, springt Eivor mit leichterem Herzen und neuem Mut in ihr Abteil. Sie fährt mit einem Gefühl nach Hause, als hätte man sie von einem Schraubstock losgemacht. Jetzt ist sie sich im Klaren darüber, dass sie lange Zeit nichts anderes getan hat, als der Wirklichkeit auszuweichen. Sicher gibt es Ausnahmen (der Versuch zu studieren, die Reise nach Madeira, der Kontakt mit Katarina Fransman, die neue Arbeit), aber es ist doch so, als hätte sie über ihre Nasenspitze nicht hinausgeblickt.
    Sie sitzt im Zug, mit wachsender Ungeduld und voller Tatendrang.
    Natürlich! Sie hat ja einen wichtigen Entschluss zu fassen.
    Um 18.29 Uhr ist sie da.
    Auf dem Bahnsteig steht ein betrunkener Mann und winkt mit einem Krebs in der Hand.

 
1981

 
     
     
     
     
     
    V or langer Zeit hatte sie einen Traum.
    Damals, in einer

Weitere Kostenlose Bücher