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Daisy Sisters

Titel: Daisy Sisters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Nacht in den schon so lange zurückliegenden siebziger Jahren. Es ist ein wichtiger Traum, da sie ja ständig zu ihm zurückkehrt, immer hoffend, etwas bisher Unentdecktes darin zu sehen.
    Normalerweise hat Eivor ein gleichgültiges Verhältnis zu Träumen, an die sie sich zufällig erinnert. Meistens bleibt es nur ein unförmiges Chaos, als ob Ereignisse und Menschen in eine Schublade geworfen und dann von ihrem Gehirn durcheinandergeschüttelt worden wären. Nie entdeckt sie irgendeine Logik zwischen den zerschnittenen und zusammengeflickten Stückchen Wirklichkeit, selten auch nur halbwegs interessante Symbole. Nein, das wenige, woran sie sich manchmal erinnert, wenn sie zur Arbeit radelt, verbannt sie schnell aus dem Gedächtnis.
    Aber mit diesem Traum ist es anders. Sie befindet sich in einem Raum, eine Mischung aus Jenny Anderssons Schneideratelier in Örebro, wo sie vor zwanzig Jahren nähen gelernt hat, und etwas anderem, das sie nur teilweise wiedererkennt. Was sie in dem Raum tut, weiß sie nicht. Aber plötzlich ist auch ihre Mutter Elna da, außerdem ihre beiden Töchter Linda und Elin, Jacobs Mutter Linnea. Es sind also nur Frauen, und sie stehen da und kichern. Plötzlich bemerkt Eivor etwas Eigentümliches. Der Altersunterschied ist weg, sie sind alle ungefähr fünfzehn, sechzehn Jahre alt.(Das Treffen im Traum scheint sich in den fünfziger Jahren abzuspielen, darauf weisen die Kleider und Frisuren hin, und im Hintergrund singt Barbra Streisand.) Plötzlich hört das Gekicher auf, und sie beginnen miteinander zu reden. Welche Worte zwischen Eivor und den Menschen, die sie im Traum besuchen, gewechselt werden, kann sie nicht sagen, aber sie erinnert sich daran, dass sie im Voraus weiß, was kommt, und dass dieses Wissen die kichernde Idylle in einen Albtraum verwandelt, vor dem sie augenblicklich fliehen möchte.
    Als sie aufwacht, hat sie die Decke weggestrampelt und ist völlig durchgeschwitzt. Es dauert lange, bis sie sich in dem dunklen Schlafzimmer orientieren kann (es ist Winter, und die Straßenlaterne, die normalerweise ein schwaches Licht durch das Rollo wirft, ist defekt) und erkennt, dass es ihr eigener Traum ist, der sie geweckt hat.
    Erst einige Tage später beginnt sie, an die Frauen zu denken, die sich in dem Raum getroffen haben. Seit diesem Tag lebt der Traum weiter in ihr, und obwohl jetzt fast sechs Jahre vergangen sind, grübelt sie noch immer darüber nach, als ob dieses Rätsel von ihr eine Lösung verlangte.
    So auch in jenem Augenblick in der Dämmerung an einem Novembertag 1981. Sie hat nach der Schicht das Domnarvets Eisenwerk in Borlänge verlassen und geht vom Westeingang zu ihrem alten Fahrrad, das angeschlossen in einem Fahrradschuppen steht. Es ist kalt, und sie zieht fröstelnd den Steppanorak dichter um sich. Da kehrt der Traum wieder in ihr Bewusstsein zurück … Sie verscheucht ihn mit einem Fluch. Gerade jetzt kann sie ihn nicht gebrauchen. Sie kommt ja gerade mal mit sich selbst zurecht! Heute hat sie ihre Menstruation wieder bekommen, und obwohl sie achtunddreißig Jahre alt ist, fast schon jenseits des fruchtbaren Alters, rebelliert sie immer noch dagegen. Sie geht zu ihrem Fahrrad undempfindet das Leben als eine einzige ausgedehnte Plage. Sich jeden Tag mit ihren unmöglichen Entschlüssen herumzuschlagen, jeden Tag in den Korb des Hebekrans zu klettern, auf die Arbeitskollegen hinunterzusehen und zu wissen, dass es überhaupt nicht sicher ist, dass sie in diesen Zeiten des wirtschaftlichen Niedergangs auf ihrem Posten bleiben kann. Die alte Unentschlossenheit, die sie abgeschüttelt hatte, als sie von Göteborg nach Borlänge gezogen war, meldet sich zurück. Was ist das nur für eine verbitterte Unruhe, die sie in sich trägt?
    Sie beugt sich über die Kette. Hinter ihr verschwindet ein Saab mit einem Blitzstart, und dem Geräusch nach zu urteilen, ist es ihr Arbeitskollege Åke Nylander, gemeinhin Lazarus genannt, der es eilig hat, nach Hause zu seinen Videofilmen zu kommen, zum größten Teil Pornos. (Dass er Lazarus genannt wird, liegt an seiner Angewohnheit, in der Kaffeepause zu schlafen und dann hochzuschrecken wie ein Wiederauferstandener.) Das Schloss hat sich zwischen den Speichen verklemmt, und plötzlich kann sie nicht mehr und tritt gegen das Fahrrad, sodass es in seinem Ständer umkippt. Sie weiß nicht, ob sie das Rad in Stücke schlagen oder sich auf den nassen Asphalt setzen und weinen soll. Etwas muss geschehen, vieles muss geschehen, und

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