Daisy Sisters
Dusche steckt. Er wohnt außerhalb von Stockholm, genauer gesagt in Gustavsberg, und nach zwei Tagen in Helsingfors, wo sie keinerlei Anschluss findet, folgt sie ihm zurück nach Schweden. Sie heiraten wenige Monate später, daist sie schon schwanger, und die unbehauste Zeit scheint vorüber. Aber als sie mit dem neugeborenen Jungen aus der Klinik nach Hause kommt, dauert es nur ein paar Wochen, bis Papa Leichtmatrose, ermüdet von dem täglichen Geschrei, drauf und dran ist, das Baby an die Wand zu schleudern. Liisa zieht aus, jetzt weiß sie ja, was zu erwarten steht, und nach einer Serie neuer zufälliger Bleiben, mehr oder weniger zuverlässiger Freunde landet sie für ein Jahr als Aushilfe in einer Imbissbude in Hedemora. Im Jahr darauf bekommt sie in Borlänge eine Arbeit bei Domnarvet, ein Arbeitsplatz, dem sie seither treu ist. »Aber das ist nicht einmal die halbe Geschichte«, sagt sie, während sie abwesend einen kleinen Spatz betrachtet, der da hockt und über den Rand einer tiefen Fußspur im Kies schielt.
Was erinnert heute noch an das finnische Mädchen, das einst nach Schweden fuhr, um in Borås Gold zu spinnen? Das in den Lehren des alten Großvaters Taipiainen den denkbar besten Hintergrund hatte, das wusste, wie die Welt durchschaut, entschlüsselt, verändert werden muss? Das zweifellos auch die Klappe aufmachte, wenn Ungerechtigkeiten überhandnahmen, das aber alles über Bord warf, als ein Jugoslawe sie mit dunklen Augen ansah? Wer war sie damals, und wer ist sie heute? Sie hebt den Blick von ihren Holzschuhen und blinzelt in die Nachmittagssonne.
»Ich habe eine Theorie«, sagt sie. »Und die besagt, dass das gewöhnliche Volk erst jetzt dabei ist, die Zusammenhänge zu entdecken. Die Politik. Das, was Ende der sechziger Jahre geschah, Vietnam und das alles, das, worum wir uns eigentlich gar nicht gekümmert haben, weil es der Wirtschaft hier in Schweden weiterhin gut ging. Aber jetzt, wo es wieder anfängt knapp zu werden, wo nichts länger selbstverständlich ist, da beginnt das Volk, den Zusammenhang, die Politik zu entdecken. Und dann wird es ernst!«
Eivor weiß nicht, was sie entgegnen soll, darum fragt sie, ob sie irgendwo einen Kaffee trinken sollen. Einen kurzen Moment schaut Liisa sie nachdenklich an, dann lächelt sie, und sie machen sich auf den Weg.
Sie werden in der ersten Etage eines maroden alten Holzhauses übernachten. Liisas entfernte Freundin arbeitet in einem Altersheim am Rande der Stadt und hat das ganze Wochenende Dienst. Das bedeutet, dass sie über Nacht nicht nach Hause kommt. Aus der unteren Wohnung dröhnt ein viel zu laut gestellter Fernseher. Eivor rollt sich auf einem roten alten Plüschsofa zusammen, während Liisa in einem Sessel sitzt und ihre nackten Füße auf den Tisch legt. Als Eivor von ihren letzten zehn Jahren berichtet, merkt sie, dass sie Liisas Erzählweise zu imitieren versucht. Zum ersten Mal erzählt sie die wahre Geschichte von Madeira, vom falschen Leon und vom wahren Lasse Nyman. Sie endet damit, wie sie Liisas Telefonnummer gefunden und sie angerufen hat. Sie fragt Liisa unumwunden, was sie tun kann, damit Staffan nicht zermalmt wird. Liisa denkt lange nach und schüttelt den Kopf. »Wie das Leben so spielt«, sagt sie leise.
Und dann, ohne Vorwarnung, als ob das Leben trotz allem ein einziger lockender Samstagabend wäre, springt sie aus ihrem Sessel und sagt, dass sie hungrig sei, dass sie Unmengen Essen brauche, um zu überleben. »Aber ich bin nicht dick«, sagt sie. »Ich wiege weniger als in Borås.«
»Ich weiß überhaupt nicht, was ich wiege«, sagt Eivor.
»Du hast nie etwas gewusst.«
Da wird Eivor klar, dass Liisa das wörtlich so meint, hinter dem scherzhaften und freundlich ärgerlichen Ton.
Sie essen beide das Gleiche, zu lange gebratene Steaks mit zusammengeschrumpelten und faden Pommes Frites. Sie trinken Wein, und Eivor versucht von Neuem, Rat von Liisa zu erhalten.
An Liisas Art zu essen sieht Eivor, dass sie fieberhaft nachdenkt, dabei ist, sich vorzubereiten … Nachdem sie den Teller von sich geschoben hat, antwortet sie. »Zieh nach Borlänge«, sagt sie. »Du kriegst eine Wohnung und einen Job. Bei Domnarvets. Wie ich.«
»Also wieder zurück in eine Fabrik?«
»Da gehören wir hin«, sagt Liisa mit Nachdruck. »Dahin oder irgendwo anders, wo die einfachen Leute arbeiten.«
Und mit allen erdenklichen Argumenten versucht sie, Eivor zu überreden, noch einmal von vorn zu beginnen, zu ihrem eigenen Nutzen,
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